you only die once
1.
(…)
Deine Frau flippt aus. Ob es dir egal ist. Ob dir alles egal ist. Wirklich alles. Ob für dich das alles keine Bedeutung hat. Ob du deinen Job, deinen scheiß Job, deinen hirnverfickten warum-schämst-du-dich-nicht-dafür-Job machen kannst, weil dir sonst alles egal ist. Weil du taub bist und ein Zyniker, ein Monster, wegen dem diese Verbrechen an der Menschlichkeit überhaupt möglich sind. Du bist nämlich das Problem, du müsstest weg, der weiße, heterosexuelle Mann im Anzug, der aufstrebende weiße, heterosexuelle Mann im Anzug muss weg, muss fallen, muss sterben und sie, seine Frau, mit dazu. Sie ist seine Hure, die von seinem Geld, seinem dreckigen Geld lebt, obwohl sie selber Geld verdient, aber eben nicht genug, um mit ihm mitzuhalten, sich also die Urlaube finanzieren lässt in Länder, in denen die Einheimischen mit Zäunen von den Gästen der Hotelanlage ferngehalten werden. So eine Hure ist sie, nichts anderes als eine Hure.
Du denkst, sie ist so hässlich, wenn sie weint. Von ihrer spitzen Nase aus breitet sich die Röte aus wie ein durchbrochener Schmetterling.
„Würdest du mich nicht vermissen?“
„Was?“
„Würdest du mich nicht vermissen?“
„Was meinst du mit vermissen?“
„Wenn ich weg wäre, wenn ich weg muss, weil ich böse bin, weil ich das Problem bin, weil ich das Monster bin, das an dem Grauen dieser Welt schuld ist. Würdest du mich vermissen, wenn ich weg bin?“
Sie stutzt. Der Schmetterling in ihrem Gesicht schlägt mit den Flügeln. Sie denkt nach, du siehst es in ihr arbeiten. Sie öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Öffnet, schließt. Lässt die Arme hängen, winkelt sie wieder an, greift sich an den Kopf, fährt sich durch die Haare, geht auf dich zu, nimmt dein Gesicht in beide Hände, schaut dich an, dieser verschleimte Schmetterling, küsst dich, küsst dich auf den Mund, küsst dich auf die Wangen, setzt sich auf deine Knie, drückt ihren Po auf deinen Schoß, küsst dein Gesicht, küsst deinen Hals und weiter runter, murmelt etwas, was du nicht verstehst, weil ihre Hände über deine Ohren fahren, durch deine Haare, es macht so ein Rauschgeräusch, sie macht dein Hemd auf, küsst weiter, rutscht runter. Du hebst sie auf, setzt sie auf die Tischplatte, greifst nach ihren Rippen und deinem Hugo Boss Hemd, greifst nach ihren kleinen Brüsten irgendwo da unter dem blauen Stoff, sie fängst wieder an zu weinen und umklammert deine Schultern und weint und weint und weint so bitterlich in den Kragen deines Hemdes, dass du sicher bist, du musst es wechseln, weil es voll ist mit ihren Kajalklumpen.
„Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung, ich weiß nicht, was ich sage, ich bin nur so scheiß traurig, verstehst du, ich wollte dich nicht verletzen, ich meine doch nicht dich, ich meine doch die anderen Arschlöcher da draußen, das sind all die da draußen, die nicht verstehen, die zulassen, die wegschauen, aber doch nicht du, dich meine ich nicht, ich liebe dich, Gott, weiß du es nicht, wie sehr ich dich liebe?“
Du lässt sie auf der Tischplatte sitzen und holst ihr ein Glas Wasser. Sie trinkt gierig und schaut über den Glasrand dich an. Mit diesen Augen. Rot.
Sie sagt, sie hat schlecht geschlafen. Sie weiß nicht mehr, was sie geträumt hat, aber es war schrecklich. Schrecklich anstrengend, sie hat das Gefühl, sie sei einen Marathon gelaufen. Ihr ganzer Körper ist davon wie zermalmt. Sie braucht Ruhe.
Sie hat Angst, dass sie heute nicht schreiben kann.
Sie hat Angst, dass sie darum die Abgabefrist nicht einhalten kann.
Sie hat Angst, dass sie dann ganz raus ist. Bekannt als eine, die es nicht schafft. Die versagt.
Sie fühlt sich wie eine Versagerin. Sie fühlt sich klein, wie ein ganz kleines Mädchen, das einfach nur gedrückt werden möchte, einfach nur im Bett liegen und nichts denken und umarmt werden, festgehalten. Dass man ihr das Gesicht streichelt wie einem Kind und ihr etwas vorsingt zum Einschlafen. Du sagst, das wirst du tun. Heuteabend. Du bleibst nicht lang.
„Und dann singst du mich in den Schlaf?“
„Und dann singe ich dich in den Schlaf.“
„Und streichelst mein Gesicht?“
„Und streichle dein Gesicht, bis du schläfst.“
Sie ist kurz davor, wieder loszuweinen, aber dieses Mal vor Freude, dann sagt sie:
„Sei bitte vorsichtig.“
„Was?“
„Sei bitte vorsichtig da draußen.“
„Ja.“
„Da draußen ist es nicht sicher.“
„Was meinst du?“
„Da draußen laufen Verrückte rum. Mit Äxten und Sprengstoffgürteln und Granaten und Kalaschnikows. Wenn dir etwas passiert, das überlebe ich nicht.“
Du schaust sie dir an. Sie ist alles, was du hast. Diese ein Meter zweiundsechzig auf dem Küchentisch. Ihre dünne, schimmernde Haut, ihre langen blonden Haare, sind alles, was du je gewollt hast, sie ist deine Familie, du zerspringst fast vor Gefühlen zu ihr, du die nicht in Worte fassen kannst. Also sagst du:
„Mir passiert nichts.“
„Nein, natürlich passiert dir nichts, das weiß ich doch, aber verstehst du, alles kann passieren, immer, man weiß nie und bitte, sei vorsichtig, du bist mein Leben, wenn dir etwas passiert, bin ich auch tot, verstehst du? Du musst so mit deinem Leben umgehen, als wäre es meins.“
„Was willst du damit sagen?“
„Es ist einfach nicht sicher da draußen.“
„Und was soll ich anders tun als vorher?“
„Nichts. Denk einfach nur dran.“
Du greifst nach deinem Jackett, du gehst zur Tür.
„Warte!“
Du wartest.
„Drückst du mich noch mal?“
Du schaust sie an.
„Noch ein Mal, ein letztes.“
Du stellst deine Tasche ab, gehst mit schnellen Schritten zu dem Tisch, auf dem sie sitzt, du bist spät dran, gleich bist du spät dran, wenn das hier noch so weitergeht. Fängst schon mal an, gute Ausreden zu erfinden, warum du zu spät im Büro bist. Du drückst sie, klopfst mit der flachen rechten Hand auf ihr linkes Schulterblatt. Willst sie loslassen, sie hält dich noch fest.
„Es ist nicht das letzte Mal“, sagst du.
„Man weiß nie“, sagt sie. „Denk dran.“
Und du denkst dran.