Sichtbar sein
Auszug aus dem Essay Sichtbar sein, erschienen in der Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum, 2019 bei Ullstein
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Wo waren die 43,8 Prozent der Bevölkerung, die voll und ganz oder mindestens tendenziell dem Satz zu- stimmten »Homosexuelle sollten aufhören, so einen Wirbel um ihre Sexualität zu machen«, als meine Freundin und ich auf der Kottbusser Brücke in Kreuzberg angepöbelt wurden, als ich die Beleidigung »scheiß Lesben« nicht runterschlucken wollte, sondern zurückschrie und der Mann auf mich losging? Ich glaube, sie waren da. Ich glaube, sie haben weggeschaut. Geholfen haben mir zwei Passanten, die phänotypisch unter das Raster »Moslem« fallen. Ich kenne sie nicht weiter, wir haben uns, nach- dem sie den Pöbler weggejagt haben, kaum unterhalten. Aber ich wusste, dass die beiden, als sie mir und meiner Freundin eine Zigarette anboten, das Gefühl der Verletzbarkeit, das wir in dem Moment empfanden, kannten. So unterschiedlich wir auch sind, liegt unser jeweiliges Wissen um das Aus-dem-Raster-Fallen sehr nah beieinander. Unser Wissen um das Niemals-normal-Sein. Wir sind immer sichtbar.
Diese beiden Männer von der Kottbusser Brücke und Mazen und Yazan sind Teil einer großen, sind Teil meiner Community. Sie formiert sich nicht nach sexuellen Präferenzen, Geschlechtsidentitäten oder Religionszugehörigkeit. Wir sind die anderen, die wissen, dass normal uns nichts zu sagen hat. Normal ist keine Autorität für uns. Wir werden füreinander da sein, wenn die Mehrheitsgesellschaft zuschaut und nicht eingreift. Wir müssen uns nicht in allem einig sein, wir müssen uns nicht einmal mögen. Aber wir wissen um die Kraft der Allianzen. Also schaffen wir unsere eigenen Strukturen, und wenn wir in Gefahr sind, werden wir uns aufeinander verlassen können. Wir sind die Alternative für Deutschland.