Satt
Szene
SU
Ein Junge.
Da ist ein Junge, der im Internet lebt. Es war mal ein kleiner Junge. Dem hab ich zugeschaut. Ein kleiner Junge im Internet, der von sich selbst sagt „Ich bin virtuell. Zu 80 Prozent bin ich online.“ Die anderen lachen ihn aus. Er tut alles, was die anderen auch tun, aber diese virtuelle Welt, für die er sich entschieden hat, ist genau so wie die andere auch. Die anderen haben beschlossen über ihn zu lachen. Er ist auserwählt. Online hat er keine Pickel und komischen Haarwuchs am ganzen Körper. Er ist nicht dick und unsportlich. Online ist er ein Soldat. Killer. Ein Titan oder Elfe. Er tut alles, was die anderen auch tun. Er spielt Egoshooter, Fantasy und Strategie. Er spricht mit Leuten weltweit. Und all diese Leute lachen über ihn. Er besucht Foren. Egoshooter Foren. Fantasy Foren. Strategiespiele Foren. Er besucht Selbstmörderforen und diskutiert mit. Er droht sich umzubringen. Er tut alles, was die anderen auch tun. Und die anderen – sie lachen.
Dieser Junge. Der kleine Junge, der von sich selbst sagt, „Ich bin virtuell. Zu 80 Prozent bin ich online.“ Der durchsucht das Haus seiner Eltern. Das Schlafzimmer seiner Eltern. Nach Tabletten. Den Medizinschrank. Die Hausapotheke. Die Vorräte der Mutter in der Küche. Der Junge geht zu sich ins Zimmer und legt sich aufs Bett. Er geht in sein Zimmer, dreht seinen Monitor so, dass die Webcam ihm dabei zuschaut wie er alles nimmt, was er gefunden hat, Schlafzimmer, Medizinschrank, Hausapotheke. Er legt sich aufs Bett und schluckt alles auf ein mal. Und dann legt er sich hin auf sein Bett.
Die Liveschaltung machte eine so schnelle Welle in den Selbstmörderforen, eine so schnelle Welle um die ganze Welt, dass die Server fast zusammenbrachen.
Der Junge hatte es geschafft. Die ganze Welt schaute auf ihn und sie brach fast zusammen dabei. Alle starrten auf den bewegungslosen Körper des kleinen Jungen auf dem Bett.
Eigentlich war alles sehr unspektakulär. Der Junge zuckte nicht, er würgte nicht, er hätte auch schlafen können. Aber dieses eine mal machte die Welt etwas anderes als lachen. Sie schaute ihm zu. Sie schaute seinem live übertragenen Tod zu. Ich schaute ihm zu.
Die Überlastung der Server wurde von den verantwortlichen Betreibern zu spät registriert. Als die Seite blockiert wurde und Polizisten und Rettungssanitäter das Haus der Eltern des Jungen stürmten, die zuhause waren, war er schon tot.
GOSCHA
Su? Alles klar?
SU
Ja.
GOSCHA
Su? Guck mich an.
SU
Ja.
GOSCHA
Das ist krank.
SU
Was?
GOSCHA
Su, der ist real, der Junge da.
SU
Nein. Der ist tot.
GOSCHA
Ja. Der ist real tot. Und du hast das gesehen.
SU
Ja.
GOSCHA
Su.
SU
Ja?
GOSCHA
Wollen wir. Willst du darüber. Kann ich was machen?
SU
Ich geh heute weg.
GOSCHA
Wollen wir was zusammen machen vielleicht? Hast du Lust? In der realen Welt was zu machen? Mit mir?
SU
Komm mir nicht so. In der realen Welt. Als ob du da lebst. Lass mich in Ruhe.
GOSCHA
Das sollte nicht so. Das meine ich nicht. Ich will dich nicht beleidigen.
SU
Ich geh heute weg. Aus. Mit meinen Freunden. Völlig real. In eine Disko. Realer als du. Das ist realer als du und dein komisches Leben mit durch den U-Bahn Schacht rennen, ist das normal, was du machst, willst du mir sagen, das ist normal oder was? Ich gehe aus. Falls du dir plötzlich hier Sorgen machst und alles, jetzt plötzlich um deine kleine Schwester, musst du nicht, weil ich gehe mit meinen total realen Freunden aus, tanzen.
Reale Freunde, die du nicht hast.
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