Laudatio auf Serhij Zhadan
In James Baldwins Essay Der Kampf des Künstlers um Wahrhaftigkeit finden wir die folgende Zeile: „Dichter (und damit meine ich alle Kunstschaffenden) sind letztlich die Einzigen, die die Wahrheit über uns wissen. Nicht die Soldaten. Nicht die Staatsmänner. Nicht die Priester. … Nur Dichter.“ Künstler*innen besitzen zwar eine gesellschaftliche Verantwortung, doch: Sie stellen sich zu keiner Wahl auf, erteilen niemandem die Absolution, greifen nicht zur Waffe. Ihre Aufgabe ist es, unbestechlich zu beschreiben, was ist. Was sie sehen. Wovon sie Zeug*innen werden. Sie richten und urteilen nicht. Sie suchen nach Worten, die Gültigkeit haben werden auch noch in einem nächsten Jahrzehnt, in einem nächsten Jahrhundert. Aus der Komplexität menschlicher Empfindungen flechten sie Zöpfe eng an die Kopfhaut der Welt – und halten damit die Erdkugel zusammen.
Wir wissen voneinander nicht aus den Geschichtsbüchern, sondern aus der Kunst. Wir wissen von der Innenseite des Menschlichen nicht aus den Wissenschaften, sondern von Malereien auf den Wänden der Steinzeithöhlen. Wir erfahren kaum etwas voneinander aus den Tagesnachrichten. Dort kommt das gelebte Leben nicht vor. Dort sind die Schockmomente, der Alarmismus, die Eskalation zu Hause. Dagegen kann die Poesie nichts tun. Auch ist sie weder für moralischen Beistand zuständig, noch kann sie als Friedensbringer dienen.
Frieden ist in den heutigen Tagen ein viel zu großes Wort, um es als Metapher zu benutzen. Kann Poesie Frieden stiften? Vielleicht den inneren Frieden. Einen Moment der Reparatur der Welt, in dem ein Einzelner aufatmet. Indem sich jemand in einem Gedicht wiedererkennt, oder in einem Satz, oder in einer Szene, und plötzlich wie über ein weites Feld schaut und nicht mehr in den eigenen Abgrund. Poesie kann das beklemmende Gefühl, dass die Welt in ihre Einzelteile zerfällt, für kurze Zeit lindern. Um es mit dem diesjährigen Friedenspreisträger Serhij Zhadan zu sagen: „Natürlich können Bücher den Krieg nicht beenden. Aber Bücher können dir im Krieg helfen, du selbst zu bleiben, dich nicht zu verlieren, nicht unterzugehen.“