Laudatio auf Maria Stepanova und Olga Radetzkaja
Ich habe diesen Text bereits zweimal begonnen: Zum ersten Mal im Sommer 2020, als die Brücke-Preis-Jury mich anfragte, auf eine der größten Autorinnen unserer Zeit, Maria Stepanova, und auf die Übersetzerin Olga Radetzkaja, deren Arbeit ich so sehr bewundere, eine Laudatio zu halten.
Damals hofften wir, allen Warnungen zum Trotz, dass dieses elende Virus nach dem Sommer nur noch als vergangener Spuk Teil unserer Gespräche sein würde und dass wir im Herbst endlich feiern würden. So feiern wie immer: die Sprache, die Sprachen, den Dialog zwischen ihnen, die Literatur. Ich dachte damals viel über das Übersetzen als Liebesakt nach, las die Texte von Olga Radetzkaja und Maria Stepanova und fragte mich, ob man auf Deutsch russisch denken kann. Sprachen geben bereits durch ihre Grammatik Denkstrukturen vor. Marie Luise Knott, selbst eine der ganz großen literarischen Übersetzerinnen ins Deutsche, schreibt, dass „es unvergleichlich leichter ist, einen philosophischen Tatbestand auf Deutsch zu sagen als auf Englisch; dass sich aber die englische Sprache und bis zu einem gewissen Grad auch die französische Sprache unvergleichlich besser eigenen, politisch zu denken“. Und immer kommt zu der Grammatik der historische Kontext, der Hallraum, hinzu.
Wie lässt sich auf Russisch erinnern, wie auf Deutsch, fragte ich mich. Und ist das Erinnern in der einen Sprache in die andere übertragbar? Was lesen Menschen, die des Russischen nicht mächtig sind, wenn sie „Nach dem Gedächtnis“ lesen? Eine Stammbaumforschung in einer ungemeinen rhythmischen, fast lyrischen Prosa, die exemplarisch für das gesamte 20. Jahrhundert steht? Einen gelehrten Essay über den Umgang mit Erinnerung in der bildenden Kunst, der Fotografie? Was sehen sie in den virtuos gestalteten Leerstellen, die der Text verhandelt und die bereits auf den Umschlägen der Bücher die zentrale Rolle einnehmen?