kopfwrestling der begriffe
Wer hat wann wem wie gesagt, dass ich Jüdin bin.
Ich erzähle euch von meiner Konstruktion.
Als meine Eltern den Zeigefinger bedeutungsvoll auf ihre Lippen legten und dem kleinen Mädchen zuflüsterten »erzählin der Schule nicht, dass du Jüdin bist« fand ich das Spiel toll. Das war ein Versteckspiel. Und als kleines Mädchen habe ich noch gern Gesellschaftspielchen mitgespielt. Das war in Russland.
In Russland ist § 5 im Pass der Paragraph, der deine Nationalität angibt. Da steht bei mir »Jüdin«. Es gibt auch einen Paragraph für Religion, da steht »Atheistin«. Bei der Übersetzung ins Deutsche wurde der Part mit der Nationalität ausgelassen, da steht nur »Staatsangehörigkeit: russisch«. Mit dem Betreten des deutschen Bodens schwer in die Pubertät kommend, musste ich alles, was meine Eltern mir beigebracht haben natürlich ins Gegenteil umkehren,also fing ich an, allen, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, zu erzählen, dass ich Jüdin bin. Ich schrie es förmlich heraus. Nicht für die anderen, damit sie sich schuldig genug oder überhaupt irgendwas fühlen. Für mich. Damit ich das klar kriege, was ich die ersten zehn Jahre meines Lebens verstecken musste.
Deutschland antwortete mir, dass sei meine Religion, was schreie ich überhaupt rum. Das ergab keinen Sinn. In die Synagoge ist von meiner Familie keiner gegangen. Die üblichen von Deutschen erwarteten Bräuche wie Schabbes feiern oder christliches Kinderblut trinken kamen bei uns nicht vor. Kein religiöser Mief umgab etwas, was ich bis dahin mit Judentum verbunden hatte. Das ging im atheistischen Russland gar nicht. Wenn überhaupt, dann war das etwas Politisches. »Die Judensäue haben das russische Volk zu Alkoholikern gemacht und dann Revolutionen angezettelt.« Das kannte ich. Wir waren kommunistische Ratten. Die Religion war nicht das Problem.
Leute, die mit Prozessen wie Umsiedlung und dem damit zusammenhängenden Papierkram Erfahrung haben, sind in der Verwendung der Begriffe sorgfältiger, sie wissen um die Konsequenzen von Halbwissen. (Sie wissen, was passiert wenn Moslem ein Synonym wird für Türke und Araber und Migrant). Aber auch unter den advancten Leuten herrscht ein Machtkampf um die Begriffe. Juden sind: Leidensgemeinschaft, Schicksalsgemeinschaft, ethnische Minderheit, religiöse Zugehörigkeit, Tradition (neuerdings versucht man uns unter den Karren christlich-jüdische Tradition zu spannen), Nationalität, Fluch, das auserwählte Volk, der Grund, warum die Weltuntergehen wird (im europäischen Vergleich glaubt daranvor allem Deutschland), Volk.
Heute ist alles Deutsche per se judenfreundlich und setzt sich aktiv für den Artenschutz dieser bedrohten Spezies ein. Jedenfalls wird das behauptet. Willkommen auch ist dieser Greenpeace-Aktivismus, weil er es so einfach macht, gegen die antisemitischen Semiten, also Araber (oder waren dasTürken oder einfach Migranten?) zu argumentieren.
Trotzdem wollen weiße Westeuropäer oft von mir wissen, warum ich immer so laut behaupte, Jüdin zu sein, wenn ich nicht an Gott glaube. Ich sage dann: weil ich auf beschnittene Jungs stehe und das ist der einfachste Weg an sie ranzukommen. Aber hier der wirkliche Grund: Ich bin geboren und aufgewachsen in einem Land, wo ich, meine Eltern, meine Großeltern und ja, all die davor auch, diskriminiert wurden aufgrund von § 5. Das ist das, was man im Russischen sagt,wenn man sagen will – eine/r ist Jude/in. Man sagt,»Sie/Er leidet an § 5«. Meine Eltern haben dieses Land verlassen, weil ihre Nationalität eben nicht russisch war. Und darum werde ich es den Deutschen nicht leicht machen und mich in die Russin-Kategorie stecken lassen, weil ich keine traditionelle jüdische Kopfbedeckung trage und sie sich noch nie Gedanken gemacht haben über ihre veralterte Sprache, die jetzt auch meine ist und ich darum großes Interesse habe, an ihrzu arbeiten.
Ich weiß, dass bei dem Kampf der Begriffe, bei unserem Kopfwrestling um Definitionshegemonie eine ständige Wandlung stattfindet. Das heißt: die Begriffe, wie sie gestern noch standen, können heute umgeschrieben werden. Also sollten wir uns ransetzen. Das ist unsere Zeit. Das ist unsere Chance.
Nun ist die Minderheit der Juden in Deutschland immer noch priviligiert. Der Artenschutz funktioniert hierzulande meistens hervorragend, wir sind für Tier- und Judenschutz. So war das jedenfalls, als ich hier aufwuchs. Mich fanden die Lehrer automatisch sympathisch und hyperintelligent, während alle meine Freunde nie übereine drei kamen, ganz egal, wie gut ihr Deutsch war und wieviel weniger Aggressionspotenzial sie an den Tag legten als ihre jüdische Mitschülerin.
Jetzt findet eine Veränderung statt. Das Deutschland, indem ich heute lebe, ist nicht das, in dem ich aufgewachsen bin. Eine Generation ist herangewachsen, eine dritte. Eine wurde ausgelöscht, die zweite kam zögerlich wieder. Wir wachsen hier auf, wir sind präsent, wir haben den deutschen Pass und eine Post-Holocaust-Mentalität. Wir sind keine Opfer-Stellvertreter. Wir sind ein gleichberechtigter Teil.
Das Spiel geht von vorne los. Der neue virtuose Schachzug Weiß-Europas heißt: jüdisch-christliche Kultur. Wir waren schon immer eins. Und jetzt kommen die anderen »Anderen« und wollen etwas. Dass bei diesen Zynismen plötzlich alle Meinungsmacher mitanstimmen wundert nicht, so wird das kollektive Bewusstsein gefälscht, also gemacht. Heute ist also salonfähig »Der Islam ist gegen unsere Werte. Alles, was er ist, sind nicht wir!« Ein Mittel, um sich selber ins bessere Licht zu rücken und Gesetzes-Änderungen abzuschlagen mit dem Argument, unseren muslimischen Mitbürgern sei es dann unmöglich, sich zu integrieren, wenn wir mehr für Gleichberechtigung und sexuelle Toleranz tun. Und die Juden sollen bei diesem Zirkus mit in die Manege. Dieses Mal auf der anderen Seite. Das ist ganz neu.
Dann gibt es noch was Altes, das gute alte Spiel: der Antisemitismus. Der ist keineswegs durch den anderen Schachzug von der Spielfläche verschwunden, der ist aberein anderer heute. Während unsere Muttergeneration noch glaubt, Juden seien etwas Heiliges, was man beschützen muss, nutzt unsere Generation und die darunter »Jude« bereits wieder als ein Schimpfwort. Ich habe das beobachtet auf Schulhöfen und in Cliquen auf der Strasse. Und ich rede hier nicht von den »ja eh antisemitischen, brutalen muslimischen Jungengangs«, ich rede von Weiß-Deutschen. Mein Bruder hat mich darauf gebracht: Er hat letztes Jahr Abitur gemacht auf einem sehr weißen Mittel- bis Oberschicht Gymnasium in Hannover Mitte. Er erklärte mir, dass das ein normales Schimpfwort ist und dass man »Ich vergas dich, du Jude« einfach mal sagt, wenn man entrüstet ist, da sei doch nichts dabei. Alle diese (vorwiegend) Jungs hatten doch Geschichtsunterricht und wüssten, was Deutschland getan hätte und darum würden sie es auch nicht so meinen.
Es ist nicht der alte Antisemitismus, der nach Deutschland zurückkehrt. Und er wird auch nicht importiert durch die einwandernden Muslime (schon peinlich, das dazu zuschreiben, aber wir leben in einer peinlichen Welt, in der peinliche Mutmaßungen Alltag sind.) Das hier ist ein neuer, ein nie da gewesener Antisemitismus. Vor allem müssen wir aufpassen, wogegen das, was wir glauben zu sein oder das, was man uns gesagt hat, was wir sind, ausgespielt wird. Weil das der einzige Zweck von diesen Zuschreibungen ist. Sowie die Dreckswelle, die gerade über uns kommt, die jüdische und türkische Communities enger zusammen bringt, so erschafft sie auch die Täter-Community seit Jahren neu. Die Schuldkultur ist, wie die Erinnerungskultur, eine riesige Industrie, die außer den offensichtlichen wirtschaftlichen Vorzügen ein Identitätsbewusstsein schafft. Man kann sich auch über schlechtes Gewissen zu einer Nation zusammenfinden. Schuldgefühl ist ein starkes Mittel zur Abgrenzung von den Anderen, den Opfern. Und eine optimale Grundlage für Moralismus, der erlaubt und befiehlt,in andere Länder einzumarschieren, um »den zweiten Holocaust zu verhindern« (Joschka Fischer über die militärischeIntervention in Jugoslawien).
Ich bin auf einer Recherche-Reise über das, was ich binund auf der werde ich mich mein Leben lang befinden. Jeder,der sich festlegt auf eine bestehende Mehr- oder Minderheitenschublade, muss falsch liegen, weil die Begriffe, die man uns in den Schulen eingetrichtert hat, aus alten Welten kommen. Diese Welten sind am Aussterben und wir lassen uns von Dinosauriern unterrichten in Geschichte und Ethik, in Philosophie und Politik, anstatt zu erkennen, dass es jetzt an der Zeit ist, die überholten Begriffe und Denkmuster umzustürzen und neu zu schreiben.
Ein anderes russisches Sprichwort, das mir einfällt ist, wenn du eine Prügelei nicht verhindern kannst – dann führ sie an. Wir sollten die Party der neuen deutschen Selbstfindung nicht verhindern – wir sollten da rein und sie anführen.
»Heimat ist nicht das Land, in dem du geboren bist, sondern die Zeit, in der du lebst.« (russische Volksweisheit)