Im Menschen muss alles herrlich sein
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Ich habe einen wiederkehrenden Traum, in dem steht eine unendliche Menge von Menschen in einer Schlange aufgereiht. Sie sind nackt, ich kann den Anfang und das Ende dieser Schlange nicht erkennen, nur, dass die Einzelnen auf einer gewölbten Oberfläche stehen, man sieht die Krümmung der Erde unter ihnen. Sie sehen einander nicht ähnlich, lange Haare, kurze Haare, krause Haare, glatte Haare, grüne und blonde und schwarze, und das schorfige Rosa von Glatzen ist auch dabei. Die Arme sind krumm und gerade, sehnig und schwabbelig, die Beine an den Knien nach innen geknickt oder so durchgedrückt, als hätten sie keine Gelenke. Ich weiß nichts über sie, kenne niemanden, der hier steht. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es Mütter und Töchter sind. Eine Frau steht hinter der anderen, und die Mutter der einen ist die Tochter der nächsten, das erkenne ich nicht an den Baumringen ihrer Haut, sie haben kein Alter, es wechselt, je nachdem, von welcher Seite aus man schaut – als hätten sie ihre Gesichter in diese FaceApp geladen, die errechnet, wie man irgendwann als Greis aussehen wird: mal taucht dasselbe Gesicht als Großmutter auf, mal als Kind. Dass es Mütter und Töchter sind, verstehe ich an der Art, wie sie aneinander vorbeischauen. Aber sie suchen sich. Sie suchen sich mit ihren Blicken. Sie stoßen die Vordere an, versuchen, auf sich aufmerksam zu machen.
Eine Frau steht hinter der anderen und klopft mit ihrem mehrmals geknickten Zeigefinger gegen das Schulterblatt derer, die vor ihr steht, wie ein Specht mit seinem Schnabel – toktoktok, toktoktok –, und ein anderer langer, mehrmals geknickter Finger klopft dieser Frau wiederum zwischen Wirbelsäule und Schulter – toktoktok, toktoktok –, und der wiederum kratzt der Nagel der hinter ihr Stehenden den Flaum im Nacken, brrbrrrbrrr, dort wird die Haut schon rot.
Die Frau greift sich an die juckende Stelle und schaut zurück, aber in dem Moment, in dem sie zurückblickt, schaut die, die geklopft oder gekratzt hat, selbst zurück, zu der Frau, die hinter ihr steht, zu ihrer Tochter, ihre Blicke begegnen sich nie, und alle warten, dass die Vordere sich umdreht, mit dem gesamten Körper, nicht bloß über die Schulter späht und die störende Hand wegwischt wie eine Mücke.