Der Große Hunger und das lange Schweigen
»Geheimnisse« nennt sich ein ukrainisches Spiel, bei dem Kinder ein Loch in die Erde buddeln, alles Bunte hineinwerfen, was sie finden können – blühende Blumen, glänzende Steine, grelle Haargummis, schimmernde Puppenkleidung –, dann legen sie eine Glasscheibe über die Grube, bedecken sie mit Erde und laufen davon. Erst wenn sie sich unbeobachtet fühlen, keh ren sie zurück, legen die Stelle wieder frei und betrachten durch das Glas ihre geheimen Schätze. Nach diesem Spiel hat eine der markantesten Stimmen der heutigen Ukraine, Oksana Sabuschko, ihren 2009 erschienenen Roman benannt: »Museum der vergessenen Geheimnisse«.
Sabuschko führt dieses Spiel auf jene Zeit zurück, als die Bolschewiken die Macht in der Ukraine übernahmen und sich die Menschen gezwungen sahen, ihre Ikonen zu vergraben oder ihren Schmuck, eben alles, was ihnen teuer war. Als Sabuschko ein paar Jahre später gefragt wurde, ob es überhaupt sinnvoll sei, die lange verborgenen ukrainischen Geheimnisse auszugraben, antwortete sie, das sei die eigentliche Frage in der ukrainischen Gesellschaft seit der Unabhängigkeit des Landes. Immerhin lebten mindesten zwei Generationen mit dem Schweigen.
Das Wesen eines Geheimnisses ist, dass man ahnungslos bleibt, wer sonst noch Bescheid weiß und worüber genau. Auch ob man selbst die ganze Geschichte kennt und ob sie der Wahrheit entspricht, bleibt einem verborgen. Wenn es sich dabei, wie im Fall der Ukraine, um ein historisches Ereignis, um einen Genozid, handelt, dann ist das Geheimnis Teil einer kollektiven Erfahrung, die wie Lava unter einer Kruste des Schweigens fließt. Wobei es heute falsch wäre, vom Holodomor als einem Geheimnis zu sprechen, denn mittlerweile wird der versuchte Völkermord im Geschichtsunterricht in der Ukraine gelehrt, und Reiseleiter:innen erzählen Touristengruppen von der systematischen Ermordung der ukrainischen Bevölkerung durch Hunger in den Jahren 1932 und 1933. Umstritten ist lediglich die Anzahl der Opfer; es waren auf jeden Fall mehrere Millionen. Aber die Aufklärung dieser Verbrechen erlebt erst die dritte Generation nach dem Massenmord. Zwei Generationen mussten damit leben, dass die Erinnerung an den Terror unter einer Erdschicht begraben lag…