Der Dreihundert-fünfund-sechzigste
Angry Birds ziehen Schlüsse
You’re the head on the spear
You’re the nail on the cross
You’re the fly in my beer
You’re the key that got lost
You’re the letter from Jesus on the bathroom wall
You’re mother superior in only a bra
You’re the same kind of bad as me
Tom Waits, Bad as me
MARIANNA
Ich beerdige diese Stadt. Ich beerdige das Gefühl von Verkauftsein, von allein gelassen werden und Alleinlassen, viele, viel zu viele, all diese jene, die jetzt durch mich hindurchschauen, mich anhauchen als wäre ich Glas und mit ihren Fingern auf mich Gesichter malen. Smily. Ich beerdige das Jahr der Verzweiflung. Das Jahr der Liebe. Das Jahr des Ausreissens. Der Versuche von all dem. Ich habe angefangen, Berlin zu hassen und zu wissen, ich kann hier nie weg, ich kann nur hier, alles andere ist Lüge. Marseille hat mir das Rückgrat geklebt, nachdem Berlin es mir gebrochen hat. Als ich wiederkam, brach sie es mir noch mal. Ich bin auf die große Insel von Hawaii geflohen, Big Island, das Dorf heißt Vulcano. Rate warum. Ich lief durch den Krater, er paffte mich an. Ich beschimpfte ihn und verlief mich. Ein Schamane sagte, ich soll mich tätowieren lassen. Ich sagte ihm, ich werde verrückt, er lächelte. Wenn ich die Wände hochgehe, sagte er, soll ich mich nicht wehren – vielleicht bin ich Spider Man. New York wollte mich behalten, ich fraß Bagels und beschloss Jiddish zu lernen, die Schläfchenlocken habe ich ja schon, Woody Allen zu finden und ihn zu kastrieren und wieder Klavier zu spielen, das vermisse ich manchmal.
Ich kam wieder. Eines meiner Fenster war bereits zugemauert, die anderen folgten. Ich packte den Koffer nicht aus. Ich stellte ihn ab, fingerte das Geschenk für dich raus, den Dreidel, setzte mich in die Küche und drehte. Ich drehe ihn immer noch.
Beim Brötchenholen stolperte ich und die alten Brüche klafften, ich kroch nach London auf allen Vieren, ich lag in den Nächten mit offenen Augen und weinte mit trockenen, niemand sah mich, ich drehte meine Runden. Ich fiel ins Wasser, wachte irgendwie in Kreuzberg wieder auf, ein Mann hielt mich und sagte, nichts ist wahr, es sei denn es ist ehrlich. Ich sagte, wegen solchen Sprüchen habe ich mein Studium abgebrochen.
Jemand spielte Akkordeon und sah aus wie ich. Ich blieb stehen und sah ihn so lange an, bis alle anderen mich verließen. Ich weiß nicht, wie lange ich da stand. Ich glaube, das ganze Jahr.
Jemand rief mich an und sagte, sie kennt mich, ich verstand nicht, ich schaute das Ihn, das Mich an, und begriff, ich bin in meinem Schlafzimmer und schaue in die Spiegelwand. Von draußen versuchten Bauarbeiter sie zu durchbohren. Jemand versuchte in meine Wohnung reinzukommen, aber sie war verbaut. Warst du das?
Die Bauarbeiter wuselten an den Türen, auch an der geheimen, und ließen niemanden rein. Wegen ihren Presslufthammern hörte ich die Klingel nicht. Wie immer ging mein Telefon nicht. Und es gab keine Fenster, an die man hätte Steinchen schmeißen können.
Darum habe ich dich wieder verpasst. Entschuldige. Ich weiß, du standest vor meiner Tür. Ich habe es gefühlt, aber später. Das Gefühl war nicht abrufbar eine zeitlang. Da war eine zeitlang nichts. Ich saß in meiner Küche, starrte die Kerze in der Lagavulin Flasche an, die auf meine Fingernägel tropfte und habe nichts gefühlt. Ich hatte einen riesigen Spaten und legte in den Koffer, der ein schwarzes Loch in meinem Gedächtnis ist: die Frau, die ich liebe, meinen Vater, meine Haare, meine Erde, mein Erwachsenwerdenwollen. Heraus wuchsen: eine menge Hände, meine Mutter, neue Erde, neue Haut, ein Bob Dylan T-Shirt, es ist pink. Komm vorbei. Ich muss dir so viel zeigen.
DENIZ
Ich war da, ich war präsent. Ich wurde Kunde bei Kreuzbergs Szene-Friseurin. Ich wollte mir ein Jackett kaufen, ein ganz gewöhnliches, überall, wo ich suchte hatten sie Ellenbogenschoner. Sie machen aus dir, was sie wollen – ich hab eins gekauft.
Ich habe viele Hände geschüttelt, viel heiße Luft geatmet auf Bühnen und selber heiße Luft produziert. Wer mich sah, dachte, ich sei ich, aber ich war nicht. Ich war nicht da. Die ersten Monate des Jahres kommen mir Jahre her vor, seit dem: Revolutionen, Umstürze, Anschläge. Das Jahr begann in Ankara, es endet in Berlin. Ich war in Dörfern mit Namen, wie Steinbach und Eisenbach, ich tanzte in den Heartbreak-Hotels fremder Städte, ich probierte neue Whiskey-Sorten und beklatschte politische Reden. Ich suchte nach meinem besten Freund in Genf und fand mich in einem Prinzessinen-Bett wieder, mit Tüll überall und Neon-Sternen an der Decke. Ich schmierte mir Pomade in die Haare und übte ein Lächeln für alle Fälle, während Zuhause anderthalb-Liter Plastikflaschen einen Haufen auf meinem Sofa bilden, neben Tupadosen mit Salzresten längst aufgegessener Nüsse, zerknüllten Vitaminpackungen, leergeschriebenen Kugelschreiben, zerbröckelnden Weihnachtsschokomännern, Notizen auf Brillenputztüchern und Servietten, meiner Knirschschiene in einem Wasserglas und dem schiefen Turm von Pisa, von dem ich nicht wusste, wo ich ihn hinstecken sollte. Eine nach der anderen, sind alle meine
Glühbirnen durchgebrannt dieses Jahr.
Erst saß ich im Dunkeln, dann in den abgenutzten Stühlen vor Cafés, dann saß ich fest. Weißt du noch? Du hast mich gefunden, wir haben meditiert, wir haben uns Gebete ausgedacht. Denn auch mein Rückgrat war gebrochen. Ich konnte nicht Laufen, wochenlang. Ich lag da und du und unser großer Bruder, ihr habt gekocht und Witze erzählt, bis ich meinen kleinen Zeh wieder spüren konnte, ihr habt Kerzen angezündet und ich konnte sehen.
Es kann soviel in einem Jahr passieren, dass das kein Rücken tragen kann oder es passiert gar nichts, monatelang und alles kommt an einem einzigen Tag. Alles auf einmal. Wir waren weg, wir sind zurück. Die letzten Minuten des alten Jahres sind gezählt. Wir bleiben unverkäuflich und stechen den Ja-Sagern die Smiley zurück in die Fressen. Vielleicht verschwinde ich wieder, vielleicht verschwindest du wieder, aber nur auf Zeit, alle Katzen beneiden uns – wir haben neun Leben. Wir erinnern uns an alles, aus den schwarzen Löchern in unseren Köpfen wachsen neue Universien. Der Kampf geht weiter. Es gibt viel zu tun.
MARIANNA
Gretschka. Das haben wir gekocht. Mit Gemüsebrühe. Ich musste meine Mutter anrufen und fragen, wie man das macht. Sie lachte mich aus, dass ich auf ein mal kochen lernen will und ich sagte, wir sind eine Horde Verletzter und brauchen russische Medizin. Sie sagte, dann kauf Alkohol. Wann ist sie zynisch geworden?
Ein russischer Clown am Hof meines Staates erzählte, Heimat ist keine Mutter, wie man sagt – Mütterchen Russland, Mutter, was für eine Mutter. Eine Heimat kann man sich aussuchen, eine Mutter nicht. Heimat ist eine Tochter, ein Kind. Er sagte, man muss es sich erziehen, sich großziehen nach eigenen Regeln und dann mit ihm leben können. Viele Leute gehen. Suchen sich was Neues. Wir sind gegangen. Heute sind viele dort auf den Straßen und ich bin hier. Die Straßen vor dem Kreml sind gefüllt. Was mache ich hier? Mir Deutschland erziehen?
Kinderhaben ist schrecklich, das sehe ich jetzt und denke an meine Mutter. Meine Tochter widert mich an mit ihrer Hässlichkeit, mit ihrer Dummheit, mit ihrer Lernunfähigkeit, sie kotzt mir vor die Füße, sie kotzt mir ins Gesicht, wenn ich ihr das Beste koche, was ich kann. Und ich sage mir immer, man darf bei so etwas nicht müde werden. Sowas kann man nicht einfach hinschmeißen und laufen lassen. Ich bin verantwortlich, und zwinge mir ein Lächeln ab, wenn ich mir den Brei von der Brust wische.
Als Ministerpräsident Wladimir Putin auf die Korruption im Land angesprochen wurde, antwortete er: Es ist gut, wenn das Volk so viel schmiert, das heißt nämlich, dass es Geld hat.
Als Marie Antoinette so geantwortet hat, hat man sie dafür geköpft. Wir haben also noch Hoffnung.
Ein Freund sagte zu mir, das Ende dieses Jahres ist das Ende eines epischen Films, bei dem alle Handlungsstränge aufgehen. Alle Geheimnisse sind jetzt gelöst:
Die FDP ist eine Spaßpartei.
Angelina Jolie ist eine russische Agentin.
Wir haben Rechtsradikale im Land.
Der nordkoreanische Diktator Kim Jong Il war ein Filmfreak und hat Filmregisseure entführen lassen, damit sie ihm Godzilla nachdrehen.
Godzilla tauchte dann in Japan auf.
Tom Waits gehört in die Hall of Fame.
Putin bescheißt bei den Wahlen und Medwedew gibt es in Wirklichkeit gar nicht.
Alte Schauspieler sterben. Theater machen macht Sinn.
Revolution ist möglich und brennt gerade an den Rändern Europas.
Da ist noch mehr.
Ich denke die ganze Zeit an etwas, was der Narr noch gesagt hatte: kluge Leute reden nicht über die Liebe. Darüber kann man nicht reden. Ich fand es irgendwie richtig und falsch. Ich glaube, der eigentliche Fehler, den wir machen, ist zu glauben, dass man über irgendetwas überhaupt reden kann, dass es Sinn macht. Darum wär ich gern dieser Narr. Oder ein anderer. Irgendeiner. Die Glöckchen am Kopf, die hab ich schon. Nenn mich Schlomo.
DENIZ
Schlomo, mein lieber Schlomo,
ich mag den Vergleich deines Hofnarren, Heimat als hässliche Tochter anstelle von bleicher Mutter. Aber was soll diese ganze Familienfehde? Ein Land, in dem wir leben, ist eine mehr oder weniger große Fläche, deren Grenzen bewacht werden. Punkt. Wir alle, alle dir wir hier leben, wurden in dieses Land geworfen, egal ob aus dem Mutterschoß oder aus einem Schiffscontainer. Du kannst dir kein Land aussuchen, du kannst dich nur entscheiden eines zu verlassen – und das auch nicht immer. Und doch: seit Tom Waits in die Hall of Fame of Rock n Roll aufgenommen wurde, bin ich etwas ruhiger. Vielleicht lag es auch an der Gretschka deiner Mutter. Nenn mich Popeye.
Ich habe eben 365 Streichhölzer verbrannt, in dem ich sie an der Wand abgezogen hab. Lauter schwarze Streifen sind übrig geblieben, ein paar Streichholzreste haben sich in die Wand eingebrannt. Ungefähr so muss es in meinem Kopf aussehen. Das Jahr ist Zuende. Ich weiß nicht, ob irgendwelche Fäden zusammenlaufen. Vielleicht befinden wir uns Mitten im Knäuel. Erinnerst Du Dich an den Text von Cesare Pavese, den Tezer Özlü in ihren Variationen auf ihn zitiert. Darin steht für einen Autor kann die Liebe niemals erfüllend sein, weil ihr der intellektuelle Aufbau fehlt, den es braucht um eine Geschichte zu sein. Da draußen ist keine Story. Die Story ist das, was du daraus machst. Ich muss dich enttäuschen, es laufen keine Fäden zusammen, Medwedew lebt, der Zynismus deiner Mutter hat seine Berechtigung.
Ich schreibe Dir übrigens gerade von dem iPhone des Busfahrers. Natürlich hat er es mir nicht geliehen. Auf meine alten Tage werde ich ein Langfinger. Ich fahre schon seit einer Stunde. Ich weiß nicht, wo ich aussteigen soll. Ich weiß nicht, ob ich aussteigen soll. Gleich sind wir bei Dir in der Gegend. Irgend etwas in mir sagt: Entführ den Scheißbus.
MARIANNA
Ich fühle mich aber nicht reingeworfen, das Wort beschreibt es überhaupt nicht. Ich wurde zwar damals gewaltsam verschleppt – Die eigenen Eltern schnitten mir die Haare ab und änderten meinen Namen, aber ich habe dieses Land hier von Anfang an abgestoßen. Unterwegs bei der Ausreise aß ich Hähnchenkeule aus der Folie, so wie wir alle das taten, ein ganzer Zug voller Emigranten mit zu vielen Koffern unterm Arsch, bunten Tüchern um die Schultern und Fleisch in Alufolie, bestimmt spielte auch irgendwer auf einer Ziehharmonika – zu viele Klischees? Nun, vielleicht betrügen die rassistischen Filme über Einwanderer auch mein Gedächtnis, ich verwechsle in meinem Kopf meine Familie mit einer aus dem Fernsehen und eigentlich trugen wir alle Frack und Kleider. Aber ich glaube nicht. Jedenfalls war das erste was ich gemacht habe, als ich den deutschen Boden betrat, auf ihn zu kotzen. Lag es nun am Hähnchen oder an der Aufregung – ich reierte meine neue Heimat erst mal ordentlich voll. Dementsprechend war das erste Wort, das ich auf deutsch lernen musste „Entschuldigung“. Weil ich nicht nur den Boden, sondern auch irgendsoeinen Typen mit erwischt habe, der neben mir stand. Aber. Was will ich sagen. Die Möglichkeit zu gehen und sich eine neue Heimat zu suchen bedeutet, wir sind freiwillig hier. Wenn wir bleiben, müssen wir auch was tun. Mit Müttern ist das anders. Eine Mutter ändert man nicht, man erzieht sie nicht, man lebt mit ihr oder nicht, man ruft sie täglich an oder nicht, man weint nicht vor ihr oder man weint nur vor ihr und das alles aus Anstand. Man vergisst sie manchmal und bezahlt dafür. Das kann ich über Deutschland nicht, will ich gar nicht sagen. Ich weiß nicht, ob ich hier bleiben werde. Vielleicht. Vielleicht holst du mich auch jetzt einfach ab mit dem Bus und wir fahren ans Meer? Die Bauarbeiter sind zwar noch da, aber wenn du einen Bus entführst, dann fahr einfach durch sie durch, durch die Wand, ich pack einen Whisky ein. Ich würde gern nach Marseille jetzt. Könntest du mich abholen? Manawa heißt das vierte schamanische Gesetzt: Jetzt ist der Augenblick der Macht. Wollen wir abhauen? Bringen wir es hinter uns. Entführ den Scheißbus.
DENIZ
Obwohl Winter ist, trug so ein Typ hinten bei den vierer Sitzern eine Ray-ben Sonnenbrille. Ich hab gefragt, ob ich sie aufsetzen darf. Eine Frau, weiter vorne im Bus, spendierte mir von ihrem Haargel. Ich habe meine Haare jetzt schwarz und glänzend nach hinten gegelt und trage eine Piloten-Sonnenbrille. Ich komme.
Mit der linken Hand drücke ich dem Busfahrer einen Kugelschreiber auf die Halsschlagader, mit der rechten schreibe ich dir diese eMail. Pack die Whiskyflasche und komm runter, jeden Augenblick brettern wir über die Bremsschwellen in der Lausitzer Straße.
Ich werde gleich nach dem Fahrermikrophon greifen und folgende Ansage machen: „Achtung, Achtung. Dieser Bus ist entführt. Bitte keine Panik.
Wir hauen nur ab. Wer mitkommen möchte, bleibt im Bus, alle anderen steigen aus. Spenden können beim Busfahrer eingezahlt werden. Ich danke und wünsche eine angenehme Weiterfahrt.“
Bring auch dein Megaphon mit, wir brüllen raus, dass das der Abhau-Bus ist. Wir halten für alle, die die Schnauze voll haben und überlegen uns unterwegs, ob wir nach Marseille fahren oder mit dem Ding in den Reichstag rasen und der Republik ein glückliches, neues Jahr wünschen.
Ich komme, Angry Bird, ich bin da.