Dem Hasen weismachen, dass Winter ist
„Sitzen Sie bequem? Haben Sie alles parat, die Öle, das Wasser, Ihre Cremes?“ Mit solchen oder ähnlich Sätzen begannen jene Heil-Séancen, die während der Perestroika ihre Blütezeit hatten und im sowjetischen Staatsfernsehen zur besten Sendezeit übertragen wurden. Die selbsternannten Psychotherapeuten, Hypnotiseure und Gurus bezeichneten sich als Extrasence: Männer, die in Fernsehstudios oder vor ausverkauften Sälen mit den Händen mehr oder weniger dezente Gesten machten und dazu mit eindringlicher Stimme versprachen, das Publikum von ihren Leiden zu erlösen. Die Themen waren Leber, Lunge, Hautkrankheiten, Falten, Augenringe. Fatale Diagnosen wie Krebs wurden in derselben Sitzung behandelt wie der Wunsch, wieder so frisch wie in der Jugend auszusehen. Diese Männer hypnotisierten ihre Patient:innen sowohl in vollbesetzten Hallen als auch via Live-Schaltung über Tausende von Kilometern hinweg. Im Fernsehen verfolgten Millionen von Sowjetbürger:innen, wie Menschen, denen der Extrasence vorher seine Sprüche zugeflüstert hatte, ohne Narkose operiert wurden. Familien versammelten sich vor den Bildschirmen und streckten dem predigenden Gesicht im Fernseher ihre Tiegel und Wasserbehälter entgegen. Und hofften auf Heilung.
Ein besonders populärer Vertreter dieser Zunft, Alan Wladimirowitsch Tschumak, behauptete einmal im Staatsfernsehen, eine Tageszeitung seiner Heimatstadt Moskau mit Heilkräften getränkt zu haben, und empfahl nun seinen Zuschauer:innen, die Exemplare dieser Zeitung zu erwerben und aufzuessen. Die Menschen taten es. Die Menschen pilgerten zu Tausenden zu ihm, campierten vor seinem Wohnort, versuchten, sein Gewand – was freilich nur ein schlichter sowjetischer Anzug gewesen sein konnte – zu berühren, um etwas von seiner Aura zu erhaschen.
Ein anderer, aus der Ukraine stammender, Superstar der Szene, Anatoli Michailowitsch Kaschpirowski, ist heute immer noch aktiv. Ende der achtziger Jahre war er in der UdSSR so populär wie im Westen Madonna. Anfang der Neunziger schloss er sich für kurze Zeit einer Partei an, die versprach, die USA wie ein Schiff zu entern und im Ozean zu versenken, und saß für diese Partei in der Duma. Heute lebt er in Moskau und hat YouTube für sich entdeckt. Dort findet man nicht nur Mitschnitte und Aufnahmen seiner Séancen aus der Zeit der Perestroika und aus den wilden Neunzigern. Einige Videos stammen aus den Jahren 2019, 2020, 2021. Eine Szene muss ich mir immer wieder anschauen: Kaschpirowski sitzt auf einer Bühne an einem einfachen Tisch, hinter ihm drängt sich eine Schar von Frauen. Die Kamera schwenkt über den überfüllten Saal, es müssen Tausende von Menschen sein, die da gespannt auf die Hypnose-Vorführung warten. Kaschpirowski hebt den Arm und sagt sinngemäß: „BOOM!“ („BABACH!“), woraufhin die Frauen versuchen, synchron umzufallen und einen abrupt eingetretenen Schlaf vorzutäuschen. Sie schauen sich ratlos an, bemühen sich darum, nicht allzu hart auf dem Bühnenboden aufzuschlagen. Ohne sich zu ihnen umzudrehen, sagt Kaschpirowski: „Kommentare scheinen unnötig.“
Das Publikum klatscht, das Publikum gerät in Ekstase. Die Horde Frauen ruckelt sich auf dem Boden in eine bequeme Position. (https://www.youtube.com/watch?v=e8RetPmFhEk)
Zappe ich heute durch die Kanäle des russische Staatsfernsehens, muss ich an Kaschpirowski denken und dann an die geistige Dressur im Kalten Krieg. Ihre Folgen verschwanden nicht mit dem Zerfall der UdSSR, auch nicht als die ersten McDonalds-Filialen in Moskau eröffneten. Und auch nicht als Gorbatschow eine Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverbrechen während der Sowjetzeit möglich machte. Was nach und nach an die Öffentlichkeit gelangte, war so monströs, so verstörend, dass große Teile der Bevölkerung bereit waren, einer Vergangenheit anzuhängen, die vielleicht dunkel und einsam und BigMac-los, aber vertraut war. Man kannte ihre Regeln, wusste sich zu verhalten. In dieser imaginären Vergangenheit war man unwissend und deshalb unschuldig…