Danja, mein dementes Jahrhundert
…
Kann die Welt ihn nicht mal in Ruhe lassen. Das kann doch jetzt nicht im Ernst –
Lasst ihn seine Heizung aufdrehen.
Echt jetzt?!
Alle sorgen sich ums Gas zum Heizen und werden verrückt.
Freunde reden plötzlich unmöglichen Unsinn.
Kein Krieg mit Russland!
Und Danjas Kopf wird violett.
Lasst den Mann in Ruhe
Er ist ohnehin kurz vor Schluss, er soll es warm haben in der Wohnung.
Lasst ihn die Heizung aufdrehen
Er hat ein wenig Ruhe verdient, nur ein wenig,
Bitte, lasst ihn.
Lass, habe ich gesagt!
Was ich damals nicht wusste:
Er war okay.
Да пошли они все на хуй! Da poschli oni wse na hui!1
Lies nur keine Nachrichten, in Ordnung?
Braucht er das auf seine alten Tage –
Что за звери, а! Tschto za zweri, a!2
Ich sage doch, lieber nicht lesen –
Не может быть что все повторяется! Nemoschet bytj, tschto wsö powtorjajeze!3
Ja, ich finde ja auch, aber brauchst du das?
Brauchst du uns? Wär es nicht besser, wenn du das alles nicht –
Что бы они все сдохли! Tschtoby oni wse zdochli!4
Er schimpfte sich die Seele aus dem Leib. Nannte die Russen alles Mögliche. Nannte uns alle alles Mögliche.
Aber er war okay.
Irgendwie war er okay.
Trotz der Bomben auf all die Städte
In dem Land, in dem er seine Frau kennengelernt, in dem seine Tochter zur Welt
Trotz all der Menschen, erschossen und liegengelassen in den Straßen, die Hände auf dem Rücken gefesselt
In dem Land, in dem er seine Frau kennengelernt, in dem seine Tochter zur Welt
Die Schmierereien auf den Hausfassaden in Butcha
Wer hat euch ein schönes Leben erlaubt? und: From Russia with love.
Nichts war okay, aber er war okay
Violettes Gesicht, aber – keine Schlaganfälle.
Mir war nicht klar, dass ihn seine Wut am Leben hielt. Er saß aufrecht im Bett und die Nachrichten gingen wie Stromschläge durch seinen Körper.
Aber er war okay.
Er war okay.
Er war okay.
War er.
Bis
2.
Siehst du das
Ich verstehe nicht, ich verstehe nicht, was ich sehe
Der Zaun zu Gaza
Kfar Aza, Nir Oz, Be’eri, Holot
Ich verstehe nicht
Ich verstehe nicht
Ich verstehe nicht
Paraglider?!!
Ich –
verstehe nicht
Was regt ihr euch schon wieder so auf, die ganze Welt brennt und ihr schaut wieder nur dahin.
Scheiße. Ich –
Kurdistan, Sudan, wir haben auch andere Probleme.
Jetzt warte doch mal.
Ich –
verstehe nicht
Siehst du, was passiert?
Nein.
Siehst du, was passiert?
Nein.
Hallo?!
Hast du dein Telefon abgestellt?! Du kannst doch jetzt nicht nicht erreichbar sein.
Ich verstand nicht, was ich sah.
Ich verstand nicht.
Ich rief meine Mutter nicht an.
Ich rief meinen Großvater nicht an.
Ich schrieb Seid ihr okay nach Tel Aviv und Haifa. Und löschte die Nachricht.
Ich schrieb Wie geht –
Hi, willst du reden?
Hey, –
איפה אתה, למה אתה לא אומר שום דבר?
Eyfo ata, lama ata lo omer shum davar?5
Ich sagte mir, niemand will reden. Wer will jetzt schon reden. Es gibt keine Worte und ich gehe schlafen und ich will dass das Licht ausgeht es kann so nicht bleiben macht das Licht aus macht das Licht aus macht das Licht aus macht das Licht aus macht das Licht aus macht das Licht aus
Du kannst doch jetzt nicht nicht erreichbar sein.
Ich will nicht reden.
Ich ging früh schlafen. An diesem Tag, an dem die Welt einfror.
Erst war der Tag so wie immer. Dann kroch die Kälte in die Glieder
Wie ein Tier mit scharfen Krallen, nistet sich ein, kratzt erst ganz langsam an den Eingeweiden
S. und ich machten Wochenendeinkäufe. Wir schalteten die Waschmaschine an, weiß, 40 Grad. Ich bearbeitete lange den Ärmel eines Shirts. Roter Blütenstaub.
Kriegt man den wieder raus aus einem weißen Ärmel?
Klar.
Kriegt man das wieder raus?
Bestimmt.
Natürlich kriegt man das wieder raus. Alles kriegt man wieder raus. Mit Gallseife.
Alles.
Ich schrubbte und schrubbte und schrubbte an dem Ärmel herum. Am Abend gingen wir spazieren. Ich ging schneller als sonst. Ein sozialistischer Mensch schlendert nicht.
Це правильно. Tse prawilno.6
S. fand das witzig.
Wir überlegten, ins Kino zu gehen, The Lost King oder Catch the Killer, aber ich war plötzlich so müde. Wir aßen Schnittlauchbrot zu Abend, ich schlief noch am Tisch ein.
Ich verstehe nicht.
Du?
Ich sagte mir, niemand will reden, aber alle redeten.
Die Chats waren voll.
Die Nachrichten. Breaking news. Breaking. Breaking. Breaking. It´s breaking.
Die Kommentarspalten, die Blogs, Stellungnahmen, Erklärungen, noch mehr Erklärungen. Kontext. Das Wort Kontext war überall.
Ein summender Schwarm von Kontexten.
Ich schrieb Willst du reden nach Tel Aviv und Haifa.
אני לא חושב, שאתה תבין
Ani lo choshev, she ata tavin.7
Ich weiß nicht mehr, was wir sagten. Aber wir sprachen.
Ich sagte immer weniger.
Ich las „Brandanschlag auf eine Synagoge“, klickte auf den Artikel und dachte: ah, Gott sei Dank, nur ein Molotowcocktail.
Ich las, dass Hakenkreuze in die Betonstelen des Holocaustmahnmals geritzt worden waren, und sagte mir, das ist fake, das ist Photoshop, dann sah ich in meinem Feed die Fotos von Freunden. Sie hatten sie selbst hochgeladen. Manche von ihnen mit Tüchern überm Gesicht, mit verschränkten Armen. Katie, meine Katie, ich erkannte sie an ihren Augen, diesen Augen, die mich mal auf einer Tanzfläche verschlungen hatten, bevor sie mich aufs Klo des Clubs gezerrt hatte, meine Katie zwischen den Betonstelen des Holocaustmahnmals mit einer AK-47 in den Händen, breitbeinig stand sie da.
Adania rief an. Ihr Bruder ist dort, sie kriegt ihn nicht mehr raus. Er ist für Dreharbeiten hingeflogen, wollte gerade die Familie besuchen, als die ersten Bomben fielen. Er geht nicht mehr ans Telefon, er antwortet ihr nicht. Sie könnte eigentlich, sie könnte ihn rausholen, aber er sagte, er will nicht weiterleben, wenn – und legte auf.
…
1 Danja schimpft auf Russisch
2 Danja schimpft auf Russisch
3 Danja schimpft auf Russisch
4 Danja schimpft auf Russisch
5 Hebräisch für: Wo bist du denn, warum sagst du nichts?
6 Ukrainisch für: Das stimmt.
7 Hebräisch für: Ich glaube nicht, dass du verstehen wirst.