Auszug aus dem Nachwort für Giovannis Zimmer
Auszug aus dem Nachwort für die Neuübersetzung von James Baldwins Giovannis Zimmer, erschienen bei dtv 2020:
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„Ich war heimgekehrt in eine Stadt, in der keiner dem anderen traute, wo Freunde ihre Freunde den Wölfen vorwarfen …“ Trotz der aufgeheizten Stimmung lässt Baldwin es sich während seines kurzen USA-Aufenthalts nicht nehmen, am 1. Mai 1952 für die Auflösung der Elendsviertel zu demonstrieren, weil er, wie er in Eine Straße und kein Name schreibt, vielleicht nichts vom Kommunismus, dafür aber eine Menge von Slums verstehe.
Die Hexenjagd der antikommunistischen Verschwörungstheoretiker richtet sich nicht nur gegen die politische Linke, sondern zielt auf alle sogenannten „Subversiven“, womit dezidiert auch Gays gemeint sind. Lavender Lads ist ein Begriff aus der Zeit jener Nachstellungen in den Fünfzigerjahren, um Homosexuelle zu verunglimpfen und als „sexuell pervers“ zu diskreditieren. Tausende als Lavendelknaben Gebrandmarkte, die öffentliche Ämter bekleiden, werden suspendiert. Doch schon vor jener Zeit, die als McCarthyism in die Geschichtsbücher eingeht, ist der Hass auf Homosexuelle ein fester Bestandteil der US-amerikanischen Gesellschaft. So etabliert sich ein eigenes True-Crime-Genre, das Morde an Schwulen und durch Schwule in diffamierender Weise ausschlachtet. Dazu gehören regelmäßige Zeitungsartikel, die sich an Verbrechen an und durch Homosexuelle ergötzen und deren Botschaft unzweifelhaft ist: Alle, deren sexuelle Präferenz von der heterosexuellen Norm abweicht, seien potentielle Mörder, Geisteskranke und Gefährdete, und welches Leben auch immer diese Menschen führen, es sei mit Scham behaftet und werde tragisch enden. Die Lektüre eines solchen Artikels, gibt Baldwin später an, ist die Initialzündung für Giovannis Zimmer.
Als er 1952 nach Paris zurückkehrt, findet er seine arabischen Stammcafés geschlossen. Sein algerischer Geldwechsler und Kompagnon in schwierigen Zeiten ist verschwunden, einem Jungen aus dem Viertel sind die Augen ausgestochen worden – ob von der Polizei oder von seinen Brüdern, die ihn der Kollaboration mit der Polizei verdächtigen, weiß auch Baldwin nicht, aber er versteht, dass „dieser schöne blinde Junge … bezeichnend für das Pariser Klima“ ist. Es kursieren Gerüchte über Lager, in die Algerierinnen und Algerier verschleppt und in denen sie gefoltert werden.
Als sich die Unruhen im Vorfeld und im Zuge des Algerienkrieges ausbreiten, beginnt Baldwin Parallelen zu ziehen zwischen den Unterdrückten in seinem neuen Zuhause Frankreich und jenen in den USA, die für die Kolonialverbrechen ihrer „Master“ mit dem Tod bezahlen. Die vergiftete Atmosphäre in Frankreich gefährdet jeden, dessen Äußeres nicht dem klischeehaften Bild des Mittel- oder Nordeuropäers entspricht. An jeder Straßenecke steht, zum Teil mit einem Maschinengewehr bewaffnet, eine Polizeiwache und schikaniert Türken, Griechen, Spanier, Juden … Baldwin schildert, wie Polizeibeamte das Feuer auf zwei junge Italiener eröffnen, die während einer Urlaubsreise mit ihrer Vespa durch Frankreich brausen und die Sirenen des Polizeiwagens überhören.
In diesem Klima der Hetze und der Bedrohung schreibt James Baldwin Giovannis Zimmer. Nicht nur ist er auf der Flucht vor dem blutigen Rassismus des US-amerikanischen Staates und seiner protestantischen Prüderie. Auch in Frankreich brennt der Boden unter seinen Füßen. In Giovannis Versehrtheit spiegelt sich das Gesicht jenes Landes, das Baldwin als seinen Zufluchtsort wählt und das mit seinen Minderheiten nicht weniger brutal umgeht als das Land, aus dem er geflohen ist. Auch in Frankreich geht es um die Kontrolle durch Staat und Gesellschaft. Und das Mittel zur Kontrolle ist auf beiden Seiten des Atlantiks dasselbe: Angst.
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