Wutvögel singen
Angry Birds – Wutvögel singen (Auszüge)
Eine Korrespondenz der Angry Birds (Sasha Marianna Salzmann, Deniz Utlu)
we’re just two lost souls swimming in a fish bowl year after year
running over the same old ground what have we found
the same old fears wish you were here
Pink Floyd
After all, everybody, that is, everybody who writes is interested in living inside themselves in order to tell what is inside themselves.
That is why writers have to have two countries, the one where they belong and the one in which they live really.
The second one is romantic, it is separate from themselves, it is not real, but it is really there.
Gertrude Stein
DENIZ
Mein Handy ist tot.
Ich hatte ein Herzschrittmacher-App heruntergeladen und das Smartphone in die Brusttasche meines Hemdes gleiten lassen, für den Fall der Fälle, du verstehst? Ich finde, das sind Zeiten, in denen jeden Augenblick das Herz stehen bleiben kann. Das Herz bleibt stehen. Es steht still.
Jetzt schlägt es wieder. Rechts und links von mir sitzen sechs-, sieben-, acht-, zehnjährige Kinder und töten Aliens. Sie beißen sich auf die Unterlippe, wenn sie die Waffen wählen – eine Shotgun oder ein Beil. Wenn das Blut spritzt, lachen sie abgehackt und hell auf.
Ich kann dich nicht anrufen, du wolltest schon längst hier sein. Es ist dunkel hier. Durch die schmalen Fenster auf Deckenhöhe dringen kaum Sonnenstrahlen. Das einzige Licht: Spritzendes Alienblut auf Bildschirmen und Kinderhornbrillen.
Wo steckst du?
Eben wollte ich raus, um vor dem Laden auf dich zu warten. Aber die Tür war verschlossen.
MARIANNA
Ich habe verschlafen. Ich wollte zu dir, dich abholen, aber ich konnte nicht, nach diesen Tagen ohne zu schlafen, irgendwann Wochen, fiel ich in diesen Schlaf, als würde ich rausfallen aus mir, so hat es sich angefühlt. Und dann hatte ich diesen Traum, einen ewig langen.
Ich ging raus. Mit Ohren unter großen Kopfhörern und Händen in meiner Pyjamahose. Ich war in New York. Die gelben Autos hupten. Ich ging ihnen entgegen, spürte sie nah an mir vorbeifahren, der Windstoß brachte mich zum Lachen. Und ich wollte fliegen lernen.
Ich stieg auf die Reling der Brücke, über die ich lief. Und dann gab es so einen Zoom auf das Wasser zu, ich glaube, den hat Hitchcock in Vertigo erfunden, so eine Lupenverschiebung nach unten und dann wieder hoch, und mir wurde schwindelig. Ich lachte, dass ich in meinen eigenen Träumen Schwindel haben kann und schaute wieder runter. Und hielt mich fest, um nicht runterzufallen. Mir war schlecht und ich schrie. Und wachte davon nicht auf.
Ich bin wach. Ich schlafe nicht. Ich bin heute aufgewacht und da ist New York da draußen.
Ich bin von der Reling runtergestiegen und nach Hause gegangen. Beschämt, weil die Autos mich anhupten, aber ich ging auf dem Bürgersteig und sie hupten, weil ich Pyjama trug.
DENIZ
Ok, ich hab das auch versucht. Ich schloss die Augen, ich zählte hingerichtete Aliens und ja, ich habe es geschafft, ich bin eingeschlafen.
Aber als ich aufwachte, war da kein New York. Als ich aufwachte, wusste ich immer noch nicht wohin gehen. Neben mir immer noch das Kind mit Hornbrille, fett grinsend in einem lichtlosen Raum.
Ich bin aufgestanden, um nach dem Besitzer dieses Internetcafés zu suchen.
Im vorderen Raum, wo Zigaretten, Alkohol, Weingummi, Lakritze, Börek, Automatenkaffee, Kaugummis, Fußballspielersticker, Zeitungen und Sonnenbrillen verkauft werden, stand niemand. Der Besitzer war weg. Die Tür öffnete sich, ein buckeliger Mann, der nur drei, aber dafür lange Haare hatte, zwei wuchsen aus der linken Schläfe, eines aus dem rechten Ohr, trat ein, schmiss Münzen in den Geldnapf auf der Theke. Erst reagierte ich nicht, aber als der Mann sich nach fünf Minuten nicht bewegt hatte, lief ich zum Kühlschrank und öffnete ihm ein Bier. Er riss es mir aus der Hand, stieß mich zur Seite und verließ den Laden. Ich wollte eben zurück in den Computerraum, da stand der Alienjunge vor mir und sagte: „Nr. 19“. Ich sagte, dass der Ladenbesitzer bestimmt gleich zurück sei. Dann kam er zur Innenseite der Theke, wo ich stand und zeigte mir, wie man den PC Nr. 19 freischaltet.
„Das nächste Mal kriegst du das hin, sagte er und lief zurück in den Computerraum.
Hör zu, meine Verschwinderin, du Abblätternde, etwas geschieht hier. In dieser Stadt. In diesem Loch. Ich weiß nicht, wie er dahin kam, aber ein Zahnstocher steckt zwischen meinen Zähnen. Wenn du schläfst, wach auf. Ich bin hier. Wenn du wach bist, wach und weg: ich habe von einer Tür gehört. Die ist in einem Imbiss in New York, du gehst durch und bist mitten in Neukölln.
MARIANNA
Bist du sicher, dass die Tür in New York ist? Ich dachte Paris. Ich habe einen Film darüber gesehen. Egal, vielleicht gibt es auch mehrere.
Du bist jetzt also Internetcafébesitzer. Die Frage ist doch, wie sehr wir uns unserem Schicksal beugen dürfen. Das mit dem Zahnstocher kann erst der Anfang sein, pass bitte auf deine Mutation auf. Hör nicht auf die Greise. Hör nur auf die Kinder. Wer sich einschließt in einem Computerspiel – das könnte auch ich sein. Behandle jeden Einzelnen, als könnte ich jederzeit aus ihm herausspringen, vielleicht ist er meine Tür.
Ich bin losgegangen, dieses Mal angezogen, um diese Tür raus aus diesem Spiel zu finden. Und wieder zog es mich instinktiv irgendwohin, als wüsste ich mein Ziel.
Ich bin zu einem Haus gegangen, es ist ein Museum jetzt. Eine alte Frau, die mir bis zum Bauchnabel reichte, nahm mich an der Hand und zog mich die Holztreppen hoch. Sie erzählte mir von zwei Familien, die hier wohnten. Eine 1890 vor dem Gesetz für Licht, Luft und Wassersysteme und eine 1910 nach der Verabschiedung. Beide jüdisch. Die eine nicht so sehr von sich aus. Die andere zwangsweise nicht so sehr, weil ihre sechs Kinder in Fabriken arbeiten mussten. Und die Fabriken feiern kein Schabbes.
Sie erzählte mir von der 16-jährigen Tochter Clara, die einen Streik losbrach, dem 12000 Frauen folgten und die Männer folgten darauf. Sie haben ihr jede Rippe in ihrem Körper gebrochen.
Sie erzählte von Cholera, Typhus, Hepatitis und Tuberkulose, die Alltag waren, weil das Abwasser auch Trinkwasser war, und dass die Labour-Bewegung erst mit dem Fabrikbrand begann, als die Leiter der Feuerwehr nicht ausreichten, um die Mädchen rauszuholen aus dem brennenden Gebäude. Hunderte sind Hand in Hand aus dem Fenster gegangen. Das war an dem dichtest bevölkerten Ort in Amerika, New York City Lower East Side, da, wo die meisten der täglich 5000 ankommenden Emigranten hinzogen. Und diese beobachteten den Brand und mussten ihre Kinder am nächsten Tag zur Arbeit schicken in andere Fabriken, die genau so sicher waren, wie die, die brannte.
Und immer wieder sagte sie, ich erzähle dir das, damit du verstehst.
Ich glaube – ich weiß, ich tu es nicht. Das kann ich nicht. Ich gehöre zu der Generation, die für hohe Preise in die Bezirke zieht, die einst ihre Ururururgroßeltern um jeden Preis verlassen wollten.
Sie hörte nicht auf, in meinen Bauchnabel all diese Geschichten zu flüstern und ich sog alles auf, ohne antworten zu können. Ich war auch nicht gefragt.
Aber plötzlich wollte ich nicht weg durch eine Tür. Nicht so wie immer. Vielleicht muss ich noch ein wenig bleiben. Vielleicht gibt es hier für mich etwas zu tun. Was zu verstehen. Verstehst du das?
DENIZ
wenn die Welt zum Maurer wird und Mauern errichtet, um dich herum,
wenn jeder Anlauf am Ende nur ein Lauf gegen die Wand ist,
wenn du tausend Mal fragst und tausend Mal heißt die Antwort Nein,
wenn du schlafen willst, aber kein Schlaf ist dir vergönnt,
dann sagt man im Türkischen: Sie haben mir die Tuberkulose eingehaucht.
Diese Stadt, dieses Land hat mir die Tuberkulose eingehaucht.
Du hast mir die Tuberkulose eingehaucht.
Das hat meine Mutter oft gesagt.
Mein Vater hat sie bekommen.
Das türkische Wort für Tuberkulose klingt nicht nach einem Fachterminus für eine Krankheit. Das türkische Wort klingt nach Verdammnis. Wenn ich es höre, sehe ich Mütter Fäuste ballen, die sie sich gegen den Kopf schlagen.
Du musst da bleiben. Du musst viele Fragen stellen und noch mehr zuhören.
All die Bilder, die aus unseren Worten steigen, haben eine ältere Geschichte als wir. Du musstest zehntausend Meilen reisen um zu fühlen, wo die Unempfindsamkeit hier herkommt.
Die alientötenden Kinder um mich herum lachen viel. Auch die Arbeiter, die hier mittags trockenen Börek und bitteren Tee kaufen, lachen viel. Und ich merke hinter ihrem Lachen und Prosten und Nicken und Rufen ist noch etwas – und das ist nicht lustig. Da klingt das Knacken der Rippen einer sechzehnjährigen Clara mit, da klingt der Atem eines an Tuberkulose, Cholera, Typhus und Hepatitis erkrankten Arbeiters mit, das Knistern brennender Fabrikhallen klingt mit. Das Knistern brennender Autos. In dem Lachen ist das Vergehen des Lachens schon enthalten.
Vielleicht muss auch ich noch ein wenig hier bleiben. Oder vielleicht bin ich schon viel zu lange hier und ich bin es, der die Tür finden muss.
Vielleicht kommt das alles auch aufs Selbe hinaus.
MARIANNA
Ich finde nicht. Ich finde nicht, dass alles auf das Selbe hinausläuft. Es ist nur jedes Mal so anders, das wir müde werden, aber, Baby, was sollen wir machen, uns verstecken? Feige sein? Ab – jedes Mal ins neue Wasser, gegen neue Kinderzeichnungen an der Wand laufen, weil wir denken, es ist eine Tür oder ein Fenster, aus denen wir gehen könnten. Ich habe schon so viele Kreideabdrücke an meiner Stirn. Die Leute denken, ich bin so blass, weil ich nicht schlafe. Tu ich auch nicht. Aber das Weiße in meinem Gesicht ist von der Wand abgeschmirgelt.
Ich jagte durch die Stadt wie ein Kreisel. Weißt du, woher das K-Wort für Juden kommt? Von kikel, also Kreisel, also Kreis. Sie sagen das jedenfalls. Sie sagen, als die Juden nach Amerika kamen, mussten sie ein Kreuz machen, da, wo sie die Einreise unterschrieben. Die Juden weigerten sich, weil nur Christen Linien kreuzen, also machten sie Kreise. Kikes eben.
Ich drehte also meine Runden und prallte in eine Frau, die ich kenne. Du auch. Du kennst sie auch. Die mit den feuerroten Haaren. Die mit dem Akkordeon, erinnerst du dich, die hat uns alle damals um den Verstand gebracht in Berlin. Ja, sie. Sie ist jetzt hier in New York und singt und spielt wieder. Sie sagte, ich soll kommen und Adresse und was von ein paar Songs, die sie machen wird. Ich konnte die Augen nicht von ihr nehmen. Ihre Haare sind jetzt weiß. So weiß wie die Kreidetüren an der Wand. Sie sagte, das ist passiert, als sie nach Amerika gegangen ist. Ganz plötzlich. Sie ist vom Schiff runtergegangen und puff. Die Haare waren weiß.
Die Kellner trugen alle Frack und Masken. Der Conférencier war eine Dragqueen, die mir ausgiebig erzählte, warum sie weiße Leute hasst. Als die Show begann, stürmten Mädchen auf die Bühne, die ganz an meinem Kopf war, und schlugen ihre Beine um meine Ohren. Die eine beugte sich runter, gab mir einen flüchtigen Kuss und sprang auf die Diskokugel, die über uns hing, um auf ihr einen Schlangentanz vorzuführen.
Noch bevor meine Akkordeonspielerin die Bühne betrat, war ich übersät mit Rosenblüten, Gummis von geplatzten Luftballons und Glitzern. All das klebte an meinem Schweiß wie Federn an Teer.
Ich starrte auf die Bühne, das Akkordeon rief die 20er Jahre aus und die roten Lippen schrieen Edith Piaf Songs unter weißen, ganz weißen Haaren. Ich fragte mich, ob mir das auch passiert wäre, wenn ich die Grenzen legal überschritten hätte. Ob das der Preis ist. Man muss irgendetwas zurücklassen. Und wenn du Pech hast, ist es das Feuer, das dich ausmacht.
Ich fragte mich, ob sie auch ein Kreisel ist. Ich weiß, sie ist hier geboren und aufgewachsen, aber was heißt das schon für Kreisel, die drehen sich immer. Ununterbrochen. Ganz gleich in welche Richtung, sie können nicht stehen bleiben und selbst wenn sie Wurzeln schlagen, reißt sie die Zentrifugalkraft wieder raus.
Wir alle drehen uns, natürlich um uns selbst, aber auch weiter und schlagen mit unserem erdigen Wurzeln um uns, wie mit Peitschen.
Nach der Vorstellung habe ich der Weißhaarigen die Kronleuchterkristalle geschenkt, die in meinen Schoß gefallen waren, und bin gegangen.
DENIZ
Gestern ist der alientötende Junge früher als sonst in den Laden gekommen. Aber nicht zum Spielen. Ich wollte ihm einen Computer freischalten, so wie er mir das gezeigt hatte, aber er schüttelte nur den Kopf. Er sagte: „Es ist Zeit. Wir müssen gehen.“ Er drückte mir eine Schultüte in die Hand. „Du musst mich einschulen“, sagte er.
Ich sagte, ich habe so etwas noch nie gemacht. Er sagte, das sei ganz leicht, er habe letztes Jahr seinen großen Bruder eingeschult. Aber der sei heute krank.
Ich hatte mich seit Tagen nicht hier wegbewegt. Schlafen kann ich sowieso nicht. Zuerst dachte ich, ich sei eingeschlossen, dann kam der Alte mit den drei Haaren einfach durch die Tür hineingeschneit.
Erst wollte ich den Laden nicht unbeaufsichtigt lassen, dann wollte ich gehen, habe mich aber nicht über die Schwelle getraut. Ich weiß nicht warum. Ich hatte das Gefühl, ich mache meinen Job gut. Ich geb dem Typen sein Bier und er ist glücklich. Er lächelt nicht, aber er ist glücklich. Ich schalte den Kids die Computer frei und die sagen nicht einmal Danke, aber sie können aussteigen aus dieser Welt. Ich wollte niemals Tele-Café-Besitzer werden. Ich weiß nicht, wie es dazu kam.
„Der Laden“, sagte ich zu dem Jungen.
Er sagte, ich übertreibe mit dem Laden.
Ich sagte mehr zu mir selber als zu ihm, was du mir geschrieben hattest: „Wer sich einschließt in einem Computerspiel – das könnte auch ich sein. Behandle jeden einzelnen, als könnte ich jederzeit aus ihm herausspringen, vielleicht ist er meine Tür.“
Ich schaute den Jungen an: „Vielleicht bist du ihre Tür.”
Er sah mich bemitleidend an.
Wir füllten die Schultüte mit Süßigkeiten, die ich an der Kasse verkaufe. Ich schmiss auch zwei Jägermeister-Fläschchen hinein. In solchen Zeiten des Umbruchs kann das beruhigend wirken.
Als wir den Laden verließen, wurde ich wehmütig. Ich schaltete das Licht aus und drehte das „geöffnet“-Schild um. Der Junge zog mich am Ärmel.
Ich schulte ihn in Schöneberg ein, weil er meinte, dass er nicht auf dieselbe Schule wolle, wie sein großer Bruder. Die Eltern hatten ihre Kinder in Anzüge und Kleider gesteckt und fotografierten und filmten ununterbrochen. Als wir endlich die Aula gefunden hatten, kam eine Lehrerin mit einer Liste zu uns, aber ich wusste den Namen von dem Jungen gar nicht. Die Lehrerin schüttelte angewidert den Kopf. Sie sagte, dass das kein Wunder sei, dass man sich jawohl kaum die Namen merken könne, wenn man am laufenden Bande Kinder produziere. „Und dann sollen wir die hier integrieren.“
Der Junge riss ihr die Liste aus der Hand und den Stift und machte einen Haken hinter seinen Namen. Dann zog er mich in die Aula. Er heißt: Dilay Ergün.
Drinnen führten die Zweitklässler einen Hühnertanz auf und sangen das Alphabet, danach erzählte die Schulleiterin, dass die Eltern erstens dem Schulförderverein beitreten sollten, dass sie zweitens ihre Kinder nicht mit dem Fahrrad zu Schule schicken sollten, dass Bewegung und Ernährung aber trotzdem wichtig für die Lernfähigkeit des Kindes seien. Außerdem, sagte sie, würden die Kinder hier lernen, wie sie mit anderen Kindern umzugehen hätten, zwei Mal in der Woche gebe es Unterricht in Kommunikation und soziales Verhalten. Ich sah zu Dilay. Er sagte, dass das hieß, dass auch er nächstes Jahr so einen Hühnertanz machen müsse.
Dilay sagte, dass die Schulleiterin gleich die Schüler auf die Bühne rufen würde, um die einzelnen Klassen zusammen zu stellen. Wenn sie ihn aufruft, werde er mich traurig ansehen und so tun als falle es ihm schwer, sich von mir zu trennen, als hätte er Angst. Vielleicht werde er sogar etwas weinen. Ich solle ihn dann in den Arm nehmen und so tun als würde ich ihn beschwichtigen und ihn liebevoll auf die Bühne schicken. Das alles, damit die nicht denken, wir seien Integrationsverweigerer.
Er hat wirklich geweint. Dann hat die Lehrerin, die so angewidert den Kopf geschüttelt hatte, endlich liebevoll genickt und ihn an der Hand genommen. Dilay hat mir zugezwinkert.
Dilay ist auch ein Kreisel. Sie werden versuchen ihn in den Boden zu stampfen.
Werden sie es schaffen?
MARIANNA
Ich mag das Wort Integrationsverweigerer. Ich verbinde damit nur die sympathischsten Menschen oder sagen wir – alle meine Freunde und alle ihre Freunde und eigentlich alle, die ich kenne. Ich weiß gar nicht – was ist das Gegenteil von Integrationsverweigerer? Gibt‘s dafür ein Wort?
Ein Beispiel meiner Integrationsverweigerung, die ich heute zu meinem Wort des Tages mache:
Die Klinke meiner Eingangstür ist abgefallen. Außen in den Hausflur. Ich wollte raus, habe an ihr gerüttelt, habe gehört, wie sie draußen auf den Boden fiel, ging zum Sofa, legte mich hin und versuchte zu schlafen. Das war vor ein paar Tagen.
Ich habe die Nächte aufgehört zu zählen, in denen ich mich von dem Ventilator über mir hypnotisieren lasse. Ich sehe im Spiegel wie meine Augen immer dunklere Schatten bekommen in alle Richtungen meines Kopfes. Die Flügel des Ventilators schlagen mir tiefe Ringe mitten ins Gesicht und es tut immer mehr weh, die Augen aufzuhalten, aber schließen kann ich sie nicht. Ich zählte die Flügel. Ich wusste, im Stillstand sind es drei, aber hier bewegt sich alles. Ziemlich schnell. Der Propeller dreht sich mit 180 Flügeln die Minute um meinen heißen Kopf.
Und heute, ich weiß nicht warum, vielleicht, weil ich gute Laune hatte oder weil mein Geburtstag war, sprang ich vom Sofa, riss an der Tür und sie ging auf. Ich war perplex, ich dachte, ich komme nie wieder raus.
Ich überlegte lange, was ich mit dem Tag anfangen soll, aber dann dachte ich, das wird er mir schon früh genug sagen und ging ins Bad, um zu duschen. In der Wanne saß eine Kakerlake. Schon wieder. Fast jeden Tag finde ich sie in meiner Badewanne, töte sie, aber die hier scheint mächtig Scheiße gebaut zu haben – die inkarniert immer wieder als Kakerlake in meiner Badewanne. Oder meine Badewanne ist so ein Inkarnationsbecken und ich wurde auserwählt, den verlorenen Seelen zu helfen.
Ich dachte nach, wer diese Kakerlake sein könnte. Ich bin in Amerika, da fielen mir nur Präsidenten ein. Vielleicht ist die hier ja Kennedy. Ich fragte sie, sie gab keine Antwort. Ich fragte sie, ob sie gehen könne, ich wolle duschen – sie bewegte sich nicht. Ich fragte, ob sie hier ist, damit ich ihr helfe auf eine andere Lebensstufe zu kommen, da begann sie wild hin und her zu laufen, ich nahm das als ein Ja.
Nach meinem Kennedymord duschte ich und ging zum Kiosk an der Ecke. Ich suchte mir eine Sonnenbrille aus. Ich wollte nicht alle die Furchen sehen lassen, die einst meine Augen gewesen waren. Der Kioskverkäufer nahm sie mir aus der Hand und legte mir in die offene Handfläche eine Nektarine. Ich schaute zuerst sie an, dann ihn. Und für kurz dachte ich – vielleicht bist du es. Dann fragte er mich, woher ich komme. (Da wusste ich, du bist es nicht.) Ich sagte Deutschland. Er zog die Augenbrauen zusammen.
– Warum? fragte er mich.
– Wie warum? Warum ich hier bin? Das ist eine lange –
– Nein. Warum Deutschland?
Ach so, ich überlegte, was ich sagen sollte, dann zuckte ich mit den Schultern.
– Keine Ahnung.
Und wir beide lachten los.
– Bleib, sagte er.
Ist das alles, fragte ich mich, aber nicht ihn, ist das alles, was du dazu zu sagen hast?
– Ich bin auch einfach hier geblieben.
Ich legte die Nektarine ganz in meinen Mund, lächelte und lief in den Grand Central. Ich weiß nicht warum, vielleicht, weil ich gute Laune hatte oder weil mein Geburtstag war, ging ich hin. Alles strömte auf mich ein. Die ganze Welt kam über mich. Ich hatte das Gefühl, es gab niemanden, keinen einzigen Menschen auf diesem Planeten, der mir nicht gerade entgegenlief. Über uns war grüner Sternenhimmel. Ich konnte ihn von dem echten nicht unterscheiden.
Und vielleicht weil ich unter einem Sternenhimmel war oder gute Laune hatte oder naja, jedenfalls fing ich an zu tanzen. Ich stellte mir vor, die Massen, die an mir vorbeischwimmen, sind Wellen, die Musik machen und ich tanze dazu. Ich tanzte, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte. Ich tanzte, weil ich nicht wusste, wohin.
Die Amis sagen, Deutsche tragen „don´t-kiss-me-buttons“. Ich küsste jeden, der an mir vorbeischwamm.
Draußen wurde es dunkel und es fing an zu regnen. Meine Bahn fuhr nicht. Der Regen wurde so stark, dass die Taxis nicht mehr anhielten. Ich hatte keine Karte für dieses Spiel und ging zu Fuß und wusste mehr als zuvor ein Gast zu sein in meinen eigenen Träumen. Manchmal kicken sie mich raus, manchmal lassen sie mich gar nicht erst rein. Manchmal pissen sie Regen in meinen Whisky, während Leonard Cohen in meinem Kopf mich nach Hause bringt.
Ich trinke mit Leonard auf Integrationsverweigerer wie uns.
DENIZ
„Mit sechsundzwanzig ist es an der Zeit, sich aus dem Rennen zurückzuziehen. Falls man im Rennen war.“ Das schreibt Ionesco in Le Solitaire. Die Zahl ist eine andere, aber nah genug dran.
Nach der Einschulung hatte ich keine Lust nach Hause zu gehen oder zurück in den Laden – was mittlerweile identisch ist. Vielleicht, weil ich verarbeiten musste, dass sie meinen neuen Freund zum Hühnchen machen würden, vielleicht, weil das einer der wenigen Abende ohne Regen war diesen Sommer oder weil du Geburtstag hattest – ich zog durch die Stadt.
Ich hielt an einem Tele-Café – nicht meinem – und schrieb Dir die E-Mail mit der Einschulung. Als ich zahlen wollte, winkte der Mann an der Kasse ab. Sie erkennen an deiner Haltung, ob du einer von ihnen bist. In dem Regal hinter der Kasse stand nur schlechter Whisky und ich trinke schon lange kein Bier mehr, deshalb zog ich nüchtern los. So nüchtern, wie man in dieser Stadt eben sein kann. Nachdem ich einige Schritte gegangen war, fiel mir auf, dass meine Hände in meinen Hosentaschen steckten, der Rock des blauen Regenmantels staute sich zu einem Schweif hinter meinen Ellenbögen. Das wäre mit Bier- oder Whiskyflasche nicht möglich gewesen, was mir eine kleine Befriedigung gab.
Ich lief und lief. Gleichmäßig, nicht zu langsam, nicht zu schnell. Es war Samstagabend und je tiefer ich in Kreuzberg eindrang, desto mehr Menschen fluteten die Straßen. Am Schlesischen Tor wollte ich bei einem Dönerladen mit dem Namen Bagdad aufs Klo. Der Ausgang des Klos führte auf den Hinterhof, wo es dunkel war, aber hunderte Menschen tanzten dort. Ein DJ legte Techno auf. Ein Mädchen küsste den Barkeeper, weil er ihr einen Shot einschenkte. Die Freundin des Barkeepers schlug ihm ins Gesicht und lief in den Dönerladen. Ich wollte einen Sekt bestellen, um hier mit dir anzustoßen, aber erstens war das nicht der richtige Ort und zweitens war Sekt nicht das richtige Getränk. Also – und erst als ich deine letzte Mail gelesen habe, verstand ich warum – fragte ich den Barkeeper nach einer Nektarine.
„Was willsten damit?“, fragte er.
„In den Mund stecken.“
Er hatte keine Nektarine. Am Ubhf. Schlesisches Tor spielte ein Skinhead Cello. Auf der Oberbaumbrücke blieb ich zwischen den Säulen stehen und ich sah aufs Wasser und zum Fernsehturm und den Lichtern der Stadt. Als ich weiter gehen wollte, stellte ich fest, dass neben jeder Säule ein Mensch stand, der aufs Wasser und zum Fernsehturm sah. Immer nur einer, starrend.
Wer waren all diese Leute? Wann war das alles geschehen? Wie lange schon hatte ich meinen Laden nicht mehr verlassen? Ich war zu einem Gast geworden. In meiner eigenen Stadt. Ich fühlte mich wie der Einzelgänger in Ionescos Roman, der sich aus dem Leben zurückzog und seine Zeit jetzt hauptsächlich damit verbrachte Beaujoulais zu trinken. In der Zeit seines Rückzugs fanden Revolutionen und Kriege statt. Häuser wurden weggebombt, Straßen aufgerissen, sein Haus blieb, er blieb. Er hatte sich kein Stück bewegt, aber die Stadt war verschwunden.
Ich kam zu einer offenen Toreinfahrt in der Boxhagener Straße. Es war dunkel. Ich lief in die Dunkelheit. Auf dem Hinterhof war ein kleiner Garten und dahinter war ein zweiter Hinterhof, die Tür ließ sich öffnen. Stimmen und Musik waren zu hören. Die Haustür öffnete sich, zwei Typen, eine Frau kamen raus und sagten: „Vierter Stock“.
Ich sagte: „Okay.““
Auf der Tür stand ganz groß „Freistaat Bayern“. Als die Musik kurz aussetzte, klopfte ich. Ein Mädchen in einem Dirndl öffnete, sie lächelte mich an und sagte langgezogen „High!“ als würden wir in derselben Soap spielen. Na ja, tun wir vielleicht auch. Jedenfalls fragte sie mich: „Kommst du gerade von der Fuckparade?“
Ich: „Fuckparade?“
Sie: „Ja, die Fuck-the-Loveparade–Parade.“
Ich: „Die Loveparade gibt’s nicht mehr.“
Sie: „Jetzt gibt’s die Fuckparade.“
Ich: „Ich habe gehört, es gibt eine Tür. Du gehst durch und bist in New York.“
Sie: „Ja, komm mit.“
Wir gingen in ein Zimmer am Ende des Flurs. Aus den kaputten Boxen knirschte „Chatanooga Choo Choo“ von Glenn Miller und Männer in Anzügen mit Lackschuhen und Frauen in Kleidern tanzten Swing. Von dem Kronleuchter an der Decke hing ein Geweih. Das Mädchen schob mich weiter. Wir stiegen eine Leiter hoch auf ein Hochbett und krochen weiter. Neben dem Bücherregal war eine kleine Tür, die in einen Raum führte, in den man nur kriechend eintreten konnte. Es war dunkel und ich sah nichts, aber ich spürte, dass unter mir etwas Weiches war, eine Matratze. Ich kam an der Wand an und lehnte mich dagegen. Sie setzte sich auf mich. Es wurde heiß. Ich sagte: „Das ist nicht New York.“
Sie sagte: „Doch in New York wäre das genau das Gleiche gewesen.“
Ich sagte: „Okay.“
Sie gab mir drei Wünsche.
Ich wünschte mir:
1. Einen Kuss.
2. Einen Whisky.
3. „So long, Marianne“ von Leonard Cohen.
Sie gab mir einen Kuss. Sie machte Licht mit einem Feuerzeug und sagte: „Da steht der Whisky“. Es war ein Talisker. Und zwar der mit 56 Prozent. Sie öffnete die Flasche und schüttete einen Schluck in das schmutzige Glas mit Lippenstiftabdruck, das daneben stand. Dann ging sie. Sie schloss die Tür.
Es war dunkel. Es war still. Der würzige Geruch des Talisker stieg mir entgegen. Ich dachte an meinen alientötenden Freund Dilay. Ich dachte an dich. Sie mussten Boxen in dem Raum angebracht haben, denn es erklang „So long, Marianne“.
Ich nahm einen Schluck und behielt ihn lange im Mund. Dann sprach ich ins Whisky-Glas „So long, Marianne, Happy Birthday.“
Ich war in New York.
Ich schlief ein.