Alles nur nicht hier
100 Jahre 14, vom Dach des Maxim Gorki Theaters
Paul Klees Angelus Novus, der Engel, der in der Luft mit ausgebreiteten Flügeln mit dem Gegenwind kämpft, hängt über Berlin und starrt. Ich liege auf dem Dach des Maxim Gorki Theaters und starre zurück. So viel ist über ihn gesagt, geschrieben, nachgedacht worden. Man sieht so viel in ihm – der, den Walter Benjamin als Engel der Geschichte beschreibt. Und ich? Ich sehe in ihm 1920, nicht mehr und nicht weniger. Wir beide sind uns Vergangenheit. Meine Augen sind gleich den seinen aufgerissen. Unsere Verwirrung über die Gegenwart muss dieselbe sein.
Ich verstehe Zeit nicht in Kapiteln, sondern als eine Spirale, die immer noch aus demselben Stück Metall gegossen ist. Die Zeit der Entstehung des Engels hat für mich einen besonderen Bleigeschmack: die 20er Jahre – in denen werde ich auch in Berlin leben. Heißt wohl auch, ich werde 33 in Berlin leben. Und dann schießen so Bilder auf mich ein.
Ich springe. Immer, wenn ich an den Beginn des 20. Jahrhunderts denke, überspringe ich die ersten 30 Jahre. Ich bin in Stalingrad geboren. Irgendwie bleibe ich immer daran hängen.
In Berlin Mitte mit dem Rücken auf dem von Schneeregen feuchtem Dach liegend, rufe ich meine Großeltern an.
Wo waren wir 1914? Ich weiß bestens Bescheid über den Zweiten Weltkrieg, über die Zahlen auf den Unterarmen, über die Helden der Roten Armee, über Flucht, Hunger, Alija nach Israel. Über den Ersten weiß ich nur, dass wir irgendwo in der Region gelebt haben, in der als direkte Folge des Krieges die Diktatur des Proletariats ausgerufen wurde.
Meine Großeltern reißen sich gegenseitig den Hörer aus der Hand.
Großmutter: Wo wir waren? Odessa.
Ich: Und was haben wir da gemacht?
Großmutter: Erzieher, Lehrer und im Buchdruck tätig. Nur angesehene Berufe.
Ich: Rabbis?
Großmutter: Sage ich doch! Gelehrte.
Großvater: Gib mir den Hörer wieder! In Orgejew waren wir. Der Vater meines Vaters war dort Müller.
Ich: Moldawien?
Großvater: Hm. Rumänien.
Ich: Aber Orgejew ist bei Chișinău, das ist Moldawien.
Großvater: Moldawien war Rumänien.
Ich: Wie kann es sein, dass niemand von uns gedient hat im ersten Weltkrieg? Durften sie als Juden nicht?
Großvater: Ne, als Moldauer.
Ich: ?
Großvater: Damals hat Nikolai der II gesagt, Moldauer zu sein ist keine Nationalität, sondern ein Hobby. Wir mussten nicht kämpfen.
Ich verstehe nur Bahnhof. Und schmunzele. Diese Sprache, diese deutsche Sprache, in der ich schreibe, denke, Witze erzähle ist so voll Kriegsgeschichte. Die Soldaten des ersten Weltkrieges träumten von zuhause und wollten nur Bahnhof verstehen und nun ist das eine Redewendung, die man lässig aus der Hüfte schießt.
Ich lege auf und starre in den Himmel über Berlin. Wie werde ich meinen Enkeln diese Frage beantworten? Was war 2014? Wie war Berlin 2014?
Seltsamerweise ist eines der ersten Bilder, das aufflackert, die Boheme Sauvage, eine Kostümparty, die die Jahre 1890 bis 1940 zum Motto hat. Man kommt nur rein, wenn die Aufmachung dementsprechend stimmt, man tauscht Euro gegen Reichsmark und verspielt alles am Pokertisch oder versäuft es an der Absinth Bar. Lange Perlenketten verheddern sich in hochgerissen Armen. Man tanzt zu einer Neo-Swing Band – eigens dafür engagierte Tanzlehrer schwirren herum und passen auf, dass man es originalgetreu macht.
Berlin sind verrauchte Parties, auf denen wir Menschen küssen, aber Geschichte meinen. Nostalgie nach einer Zeit, die wir nicht erlebt haben. Sich wegdenken aus der Zeit, in der wir heute sind.
Der Alkohol fließt über unsere entblößten Beine und wir schmeißen Kunstpelze drüber. Wir schneiden uns die Haare nach alter Fasson, versuchen so auszusehen wie früher. An der Bar, wenn wir bei Armdrücken verlieren, schreien wir, Jetzt gibt es Krieg!
Ich atme aus in den kalten Himmel über Berlin und steige runter vom Dach. Auf dem Weg in meine Lieblingskneipe am Hackeschen Markt, laufe ich an Frau Merkels Wohnung vorbei, grüße die Polizisten.
Ich will mich verlaufen. Auf dieser Insel Berlin, laufe zwischen den Museen wie eine Spirale ab und betrachte die Einschusslöcher in den Säulen und Häuserfassaden.
Nur weil wir den Krieg exportiert haben, heißt es nicht, er findet nicht statt.
Berlin ist rückwärts gewandt wie Paul Klees Engel, der noch ganz baff von den Trümmern der Geschichte schon in eine Zukunft geschleudert wird, auf die er nicht vorbereitet ist.
Berlin ist alles, nur nicht hier sein, weil wir in Geschichte ertrinken. Ich habe gehört, wir ziehen Konsequenzen aus ihr. Das halte ich für ein Gerücht.
Schaue Dich doch mal um.
Stell Dich vor das Maxim Gorki Theater und drehe Dich um 360Grad und wenn Du wieder bei Null angekommen bist, versuche das Jetzt zu sehen.
Du bist eine historische Figur. Willkommen in der Geschichtsschreibung.