GLEICHZEIT
Auszug aus einem Brief vom 1. November 2023
… Es überrascht mich, wie oft ich jetzt Jüd*innen sagen höre, Israel sei diese eine sichere Option für die Zukunft gewesen. Sollte es hier, in Europa, einmal nicht mehr gehen, gehe man nach Israel, das habe immer festgestanden. Das war für viele hier, mit oder ohne Bezug zu der Region, eine Selbstverständlichkeit. Und nun hat sich diese Option mit einem Mal zerschlagen. Und damit Zukunft an sich – weg.
Ich hatte das nicht, nie. Weder das Land, aus dem ich komme (Russland), noch das Land meiner Vorfahren (Ukraine) noch das Land, das mir versprach, mein gelobtes zu sein (Israel), noch das andere gelobte Land (USA) waren eine Option für mich. Es hatte mich einfach nicht interessiert, ein Land zu haben.
Gestern rief mich eine Freundin an, sie ist Künstlerin, Kurdin, Alevitin, und sagte: Ich wollte dich nur wissen lassen – ich sehe, was gerade passiert. Ich stelle mich vor dich. Blöderweise bist du doppelt so groß wie ich, aber das macht nichts. Ich frage Mehmet, er kommt auch und stellt sich auch vor dich, und ich klettere auf seine Schultern. Wir stellen uns alle vor euch. Nichts kann dir passieren, nichts.
Und ich dachte: Das ist es eigentlich. Ich habe ein Morgen. Wir alle haben ein Morgen, Ofer, und meine Zukunft, mein Eretz Israel, sind meine Freund*innen, seid ihr.
…
Gleichzeit – Briefe zwischen Israel und Europa, bei Suhrkamp