Kafka gelesen: Gay Literacy
„Du magst meine Schwester?“
„Nein, nicht mein Typ.“
„Und auf wen stehst du?“
„Auf jemanden, der Kafka liest.“
Ich flog mit 900 km/h über den Atlantik, als sich die Protagonisten von Of An Age, Adam und Kol, relativ spät im Lauf des Films, küssten. Der Flug nach New York dauert von Berlin aus drei bis vier Filme, ich entschied mich, mit einem australischen anzufangen – mit einem nichtssagenden Titel über einem Filmstill, auf dem zwei Männer sich über das Dach eines parkenden Autos hinweg anschauen. Adam und Kol fahren durch die Outskirts von Melbourne auf der Suche nach Adams Schwester, aber vor allem suchen sie nach einem Weg, sich einander anzunähern. Im Australien der Neunzigerjahre riskierte man mit einem Coming-out, mit einer möglicherweise falschverstandenen Geste der Annäherung alles. Also unterhalten sich die beiden über Literatur – und einigen sich auf Kafka. Wenig später, als die beiden die apathische, nach einer Partynacht immer noch zugedröhnte Schwester aufgelesen haben und Adam Kol darauf anspricht, ob er und seine Schwester ein Paar seien, winkt Kol ab: „Nicht mein Typ.“ Sein Typ seien Menschen, die Kafka lesen. Adam lächelt (und zieht sein T-Shirt aus).
Kafka ist in dieser Szene offenbar ein Code, ein Zeichen für etwas jenseits der herkömmlichen Zuschreibungen (hermetisch abgeriegelte, teils alptraumhafte Welten, das Ersticken an der Enge gesellschaftlicher Verhältnisse, Galgenhumor, Angst). Außer über Kafka reden Adam und Kol über schwule Filme (Happy Together von Wong Kar-wai), nennen queere Referenzen, und ich fragte mich, damals up in the air, ob es eine Welt gibt, in der ein ganz anderer Kafka existiert, einer, den ich nicht kenne. Ein Kafka, der für körperliche Annäherung oder gar Begehren stehen könnte. (Vor allem Letzteres schien mir abwegig.)
Of An Age verblasste schnell in meiner Erinnerung, und Adam und Kol fielen mir erst wieder ein, als ich, schon einige Wochen in New York, zu einer Veranstaltung in der Neuen Galerie eingeladen war, in der die Neuübersetzung von Kafkas Tagebüchern ins Englische vorgestellt wurde. 1048 5th, direkt am östlichen Rand des Central Park. Im ersten Stock der Galerie machten teuer gekleidete Besucherinnen heimlich Fotos von der Goldenen Adele, die dort eine ganze Wand ausfüllt, bevor die Securitymänner ihnen die Telefone aus der Hand nahmen. Vor dem Klimt-Original saßen der Kafka-Übersetzer, Ross Benjamin, und sein Moderator, Andre Aciman, der immer wieder versuchte, das Gespräch auf ein bestimmtes Thema zu lenken. Ross Benjamin beschrieb seine Übersetzungsarbeit als eine Art Freischaufeln von Verschüttetem. Sobald der Name Kafka fiele, kämen Assoziationsketten in Gang: ein auf dem Rücken liegender, mit den Beinen strampelnder Käfer, Amerika, der Brief an den Vater, Felice Bauer, Max Brod, … Der Moderator wollte all diese Ausführungen kaum hören, unterbrach Benjamin häufig und fragte irgendwann ungeduldig, was es denn mit den aus den Original-Tagebüchern gestrichenen Stellen auf sich habe und ob man sagen könne, Kafka habe von seinem Begehren gewusst. „Die homoerotischen Passagen meinen Sie?“, fragte der Übersetzer zurück, und mir fiel doch tatsächlich (wie peinlich) der Stift aus der Hand. Adam und Kol schauten mich durch das offene Fenster ihres Autos an und grinsten.
Zumindest habe Kafka in deutlichen Worten Max Brod gegenüber erwähnt, dass er davon geträumt habe, Franz Werfel zu küssen, antwortete Ross Benjamin. Im November 1917 habe Kafka an Brod geschrieben, Werfel geistere durch seine Träume und ließe ihn an Hans Blüher denken, dessen Buch er weglegen musste, weil es ihn so aufgeregt habe.
Ob Kafka schwul war, wollte (und konnte) der Übersetzer nicht beantworten. Wir wissen lediglich von Fantasien und Schwärmereien in Tagebucheinträgen und Briefen, die Max Brod weitgehend habe verschwinden lassen, so Benjamin. Zum Beispiel jene Passage, in der Kafka von zwei schönen schwedischen Jungen in einem Sanatorium im Harz schwärmt, „mit langen Beinen, die so geformt und gespannt sind, daß man nur mit der Zunge richtig an ihnen hinfahren könnte“, wie er sich am 9. Juli 1912 im Tagebuch notiert.[1]
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Nachzulesen hier
[1] Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcom Pasley. Kritische Ausgabe. Frankfurt am Main: S. Fischer 1990, S. 1041.