Rede im Kanzleramt
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Das gegenwärtige gesellschaftliche Klima treibt die Akteur*innen unseres Theaters auseinander. Das ist fatal, denn das dient nur den Feinden der Demokratie. Darum glaube ich, dass es unbedingt notwendig ist, zusammen zu bleiben, und ich glaube, dass Kunst und Kultur der Ort sein könnte, der alle beherbergen kann und auch muss. Weil Kunst und Kultur ein Ort des Humanismus ist.
Und auch wenn die Künstler*innen als Menschen den humanistischen Ansprüchen nicht immer gerecht werden mögen – die Kunst selbst nimmt alle Protagonist*innen gleich wichtig und gleich ernst. Wenn sie es nicht tut, ist sie Propaganda. Aber wenn sie ein Ort der Verhandlung der Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen der conditio humana ist, dann ist sie auf der Seite der Menschlichkeit. Wir schauen mit ihr in menschliche Abgründe und verstehen darüber mehr von uns und vom anderen; und der (vermeintlich) andere ist uns weniger fremd. Oder im besten Fall: gar weniger Feind. So ist Kunst ein essentieller Bestandteil der Demokratie. Denn was ist eine Demokratie wert ohne Menschlichkeit?
Mir ist besonders wichtig zu betonen: Kunst ist keine Dekoration, kein Nice-to-have, keine Kulisse, vor der man das eigentlich Relevante, das „System-relevante“, verhandelt. In den Gedichten und Romanen des Friedenspreisträgers Serhij Zhadan kann man eindrucksvoll nachlesen, wie ukrainische Soldat*innen zu Büchern greifen, um bei Verstand zu bleiben. Um sich einer Welt zu versichern, wie sie einmal war. Vergessen wir nicht: noch in Ruinen zerstörter Städte wurde und wird Theater gespielt. Gedichte können die Gebete der Nichtgläubigen sein. Wir wissen es aus der Überlebenden-Literatur: KZ-Häftlinge murmelten auswendiggelernte Verse vor sich hin, um einen Tag länger durchzuhalten. Um nicht unterzugehen. Gedichte, Romane, Musik sind auch eine Rückversicherung auf eine Welt jenseits der Katastrophe – jenseits eines Krieges, einer Inhaftierung, einer Zerstörung.
In der Kunst bekommt der Mensch sein Gesicht zurück. Die Philosophin Carolin Emcke spricht von einer Re-Humanisierung der Entrechteten. Derer, denen die Würde in gewaltvollen Verhältnissen genommen wurde. Darum ist es so notwendig und unerlässlich, dass niemandem die Möglichkeit zum künstlerischen Ausdruck verwehrt wird. Dass alle in der Kunst sichtbar sein dürfen. Denn erst wenn auch die Geschichten aus den Marginalien der Gesellschaft erzählt werden können, entsteht ein zumindest annähernd vollständiges Narrativ. Geschichtsbücher und Sachliteratur reichen nicht, um die Welt zu verstehen. Ich komme aus einem diktatorischen System, ich weiß, wie wenig verlässlich Geschichtsbücher sind. Und selbst wenn sie nicht rigoroser Zensur unterworfen oder alljährlich umgeschrieben werden, sprechen sie immer von zwei Seiten: von den Siegern und den Verlierern. Das mag historisch korrekt sein, aber es reicht nicht, um die Gegenwart fassen zu können und – um sie auszuhalten. Die Annäherung an die Wahrheit gibt es nur um den Preis der Ambivalenz. Die Wahrheit birgt eben immer auch Widersprüche. Diese haben in der offiziellen Berichterstattung, in den Zeitungen, der Tagesschau, den Essays selten Platz. Aber die Kunst und Kultur, wenn sie frei ist, ist ein Ort eben genau dafür.
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